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Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

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den ersten Augenblick sehr schwer mit meinen Erfahrungen
vereinbar erscheinen. Dieses ist die Lähmung einer ganzen
Körperseite, hervorgebracht durch Ursachen, die nur das Hirn
afficirt haben. Aber wenn es selbst kein Mittel gäbe, sie zu
versöhnen, bliebe es doch nicht weniger wahr, dass eine das
Gehirn allein afficirende Affection das Gefühl und die willkür¬
liche Bewegung der Hälfte des Körpers nehmen kann, während,
von der anderen Seite betrachtet, das Gefühl und die willkür¬
liche Bewegung in einem enthaupteten Thiere bestehen und
auch erhalten werden können. So sehr sich diese Momente
widersprechen mögen, so muss man bedenken, dass zwei wohl
constatirte Facten sich einander nicht auszuschliessen vermögen,
und dass der Widerspruch, den man in ihnen zu bemerken
glaubt, durch ein Mittelglied verbunden ist, welches sich der
Erkenntniss entzieht".

Nasse wendet hiergegen ein: "Dass es zur Lösung dieses
Widerspruches nur der Entscheidung bedurfte, dass die Em¬
pfindung und die willkürliche Bewegung, welche vom Gehirn
aus verloren gehen, und die, welche durch das Rückenmark
erhalten werden, nicht von gleicher Art seien. Die an die Ge¬
hirnthätigkeit geknüpfte Empfindung ist die der zum Kopf ge¬
henden Sinnesorgane, welche durch Vergleichung der Eindrücke
zum Bewusstwerden der Aussenwelt erhoben werden kann. Es
besteht ferner die willkürliche Anregung, welche das Gehirn
giebt, in der des Gebrauchs der Gliedmassen zum Forttragen
des Körpers nach einem durch das Gesicht wahrgenommenen
Ziele hin und beim Menschen auch in dem der Sprachorgane.
Die mittels des Rückenmarkes noch bleibende Empfindung ist
dagegen blos das in einer Art von Schlafzustand dauernde
Gefühl; die Bewegung, welche die psychische Function des Rük¬
kenmarkes noch hervorzurufen im Stande ist, hat keine Veran¬
lassung weiter zu gehen, als wohin ein solches Gefühl sie zu
leiten vermag. Der Grund von Empfindung und Herrschaft
über willkürliche Bewegungen, der dem Rückenmark bei noch
unverletztem Gehirn angehört, bleibt ihm aber auch dann, wenn

den ersten Augenblick sehr schwer mit meinen Erfahrungen
vereinbar erscheinen. Dieses ist die Lähmung einer ganzen
Körperseite, hervorgebracht durch Ursachen, die nur das Hirn
afficirt haben. Aber wenn es selbst kein Mittel gäbe, sie zu
versöhnen, bliebe es doch nicht weniger wahr, dass eine das
Gehirn allein afficirende Affection das Gefühl und die willkür¬
liche Bewegung der Hälfte des Körpers nehmen kann, während,
von der anderen Seite betrachtet, das Gefühl und die willkür¬
liche Bewegung in einem enthaupteten Thiere bestehen und
auch erhalten werden können. So sehr sich diese Momente
widersprechen mögen, so muss man bedenken, dass zwei wohl
constatirte Facten sich einander nicht auszuschliessen vermögen,
und dass der Widerspruch, den man in ihnen zu bemerken
glaubt, durch ein Mittelglied verbunden ist, welches sich der
Erkenntniss entzieht“.

Nasse wendet hiergegen ein: „Dass es zur Lösung dieses
Widerspruches nur der Entscheidung bedurfte, dass die Em¬
pfindung und die willkürliche Bewegung, welche vom Gehirn
aus verloren gehen, und die, welche durch das Rückenmark
erhalten werden, nicht von gleicher Art seien. Die an die Ge¬
hirnthätigkeit geknüpfte Empfindung ist die der zum Kopf ge¬
henden Sinnesorgane, welche durch Vergleichung der Eindrücke
zum Bewusstwerden der Aussenwelt erhoben werden kann. Es
besteht ferner die willkürliche Anregung, welche das Gehirn
giebt, in der des Gebrauchs der Gliedmassen zum Forttragen
des Körpers nach einem durch das Gesicht wahrgenommenen
Ziele hin und beim Menschen auch in dem der Sprachorgane.
Die mittels des Rückenmarkes noch bleibende Empfindung ist
dagegen blos das in einer Art von Schlafzustand dauernde
Gefühl; die Bewegung, welche die psychische Function des Rük¬
kenmarkes noch hervorzurufen im Stande ist, hat keine Veran¬
lassung weiter zu gehen, als wohin ein solches Gefühl sie zu
leiten vermag. Der Grund von Empfindung und Herrschaft
über willkürliche Bewegungen, der dem Rückenmark bei noch
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[58/0080] den ersten Augenblick sehr schwer mit meinen Erfahrungen vereinbar erscheinen. Dieses ist die Lähmung einer ganzen Körperseite, hervorgebracht durch Ursachen, die nur das Hirn afficirt haben. Aber wenn es selbst kein Mittel gäbe, sie zu versöhnen, bliebe es doch nicht weniger wahr, dass eine das Gehirn allein afficirende Affection das Gefühl und die willkür¬ liche Bewegung der Hälfte des Körpers nehmen kann, während, von der anderen Seite betrachtet, das Gefühl und die willkür¬ liche Bewegung in einem enthaupteten Thiere bestehen und auch erhalten werden können. So sehr sich diese Momente widersprechen mögen, so muss man bedenken, dass zwei wohl constatirte Facten sich einander nicht auszuschliessen vermögen, und dass der Widerspruch, den man in ihnen zu bemerken glaubt, durch ein Mittelglied verbunden ist, welches sich der Erkenntniss entzieht“. Nasse wendet hiergegen ein: „Dass es zur Lösung dieses Widerspruches nur der Entscheidung bedurfte, dass die Em¬ pfindung und die willkürliche Bewegung, welche vom Gehirn aus verloren gehen, und die, welche durch das Rückenmark erhalten werden, nicht von gleicher Art seien. Die an die Ge¬ hirnthätigkeit geknüpfte Empfindung ist die der zum Kopf ge¬ henden Sinnesorgane, welche durch Vergleichung der Eindrücke zum Bewusstwerden der Aussenwelt erhoben werden kann. Es besteht ferner die willkürliche Anregung, welche das Gehirn giebt, in der des Gebrauchs der Gliedmassen zum Forttragen des Körpers nach einem durch das Gesicht wahrgenommenen Ziele hin und beim Menschen auch in dem der Sprachorgane. Die mittels des Rückenmarkes noch bleibende Empfindung ist dagegen blos das in einer Art von Schlafzustand dauernde Gefühl; die Bewegung, welche die psychische Function des Rük¬ kenmarkes noch hervorzurufen im Stande ist, hat keine Veran¬ lassung weiter zu gehen, als wohin ein solches Gefühl sie zu leiten vermag. Der Grund von Empfindung und Herrschaft über willkürliche Bewegungen, der dem Rückenmark bei noch unverletztem Gehirn angehört, bleibt ihm aber auch dann, wenn

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Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/80>, abgerufen am 02.05.2024.