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Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874.

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So sehr also Heer- und Kriegsdienst fürs Vaterland störend,
unter Umständen zerstörend in das unmittelbar sinnliche Ergehen
des Einzelnen eingreifen mögen, auch die kriegerische Begeisterung
als "der zum Kampf aufgebotene Patriotismus" gehört sittlich und
geistig betrachtet unter jene hochwichtigen Momente, in denen der
Dienst des größeren Ganzen die wahrhaft menschenwürdige Er¬
weiterung und Erhebung des Individuums wirkt, also trotz aller
äußeren Einbuße doch wahren Gewinn bringt.

Auch für das öffentliche Wirken in größerem Gebiet
und Umfang, wer Neigung und Beruf dazu in sich fühlt, liegt
in der eigenen Nation so recht der "archimedische Punkt" (dos
moi pou sto), von dem aus die Welt in engeren oder weiteren
Kreisen bewegt werden mag. Wohl ist es ein bekanntes Wort,
daß "der Prophet nichts gilt in seinem Vaterland". Ob aber
dieß nicht doch nur von der näheren Umgebung in Raum und
Zeit wahr ist, welche aus allerlei Gründen über der augenfälligen
Schaale eines Mannes den Kern leicht übersieht? Die rein
empirische Betrachtung bleibt an der Erscheinung hängen: "Ist
er nicht des Zimmermanns Sohn?" fragt sie selbst bei den größten
Baumeistern der Weltgeschichte. "Kennen wir nicht seine Brüder
und Schwestern?" Darin regt sich schon der Neid, der sich vor¬
nemlich aufs Nahe und äußerlich Gleichgeordnete wirft, während
er bei dem Fernen oder Allzuhohen in seiner Vergleichung ver¬
stummt. Der athenische Ostrazismus ist darum ein tief-mensch¬
licher Karakterzug, der sich bis heutigen Tags noch nicht verloren
hat, sondern hie und da in dem kleinlicht-neidischen Eliminiren
und Hinausdrängen der Tüchtigsten aus dem engeren jeweiligen
Kreis erweist. Aber eine mäßige Entfernung im Raum, ein
nicht zu langer Verfluß der Zeit genügt, um dem besseren ideali¬
sirenden Zug der Menschennatur zum Sieg zu verhelfen, den ver¬
schönernden Duft des "olim meminisse juvabit" auf das zunächst

So ſehr alſo Heer- und Kriegsdienſt fürs Vaterland ſtörend,
unter Umſtänden zerſtörend in das unmittelbar ſinnliche Ergehen
des Einzelnen eingreifen mögen, auch die kriegeriſche Begeiſterung
als „der zum Kampf aufgebotene Patriotismus“ gehört ſittlich und
geiſtig betrachtet unter jene hochwichtigen Momente, in denen der
Dienſt des größeren Ganzen die wahrhaft menſchenwürdige Er¬
weiterung und Erhebung des Individuums wirkt, alſo trotz aller
äußeren Einbuße doch wahren Gewinn bringt.

Auch für das öffentliche Wirken in größerem Gebiet
und Umfang, wer Neigung und Beruf dazu in ſich fühlt, liegt
in der eigenen Nation ſo recht der „archimediſche Punkt“ (δός
μοι ποῦ στῶ), von dem aus die Welt in engeren oder weiteren
Kreiſen bewegt werden mag. Wohl iſt es ein bekanntes Wort,
daß „der Prophet nichts gilt in ſeinem Vaterland“. Ob aber
dieß nicht doch nur von der näheren Umgebung in Raum und
Zeit wahr iſt, welche aus allerlei Gründen über der augenfälligen
Schaale eines Mannes den Kern leicht überſieht? Die rein
empiriſche Betrachtung bleibt an der Erſcheinung hängen: „Iſt
er nicht des Zimmermanns Sohn?“ fragt ſie ſelbſt bei den größten
Baumeiſtern der Weltgeſchichte. „Kennen wir nicht ſeine Brüder
und Schweſtern?“ Darin regt ſich ſchon der Neid, der ſich vor¬
nemlich aufs Nahe und äußerlich Gleichgeordnete wirft, während
er bei dem Fernen oder Allzuhohen in ſeiner Vergleichung ver¬
ſtummt. Der atheniſche Oſtrazismus iſt darum ein tief-menſch¬
licher Karakterzug, der ſich bis heutigen Tags noch nicht verloren
hat, ſondern hie und da in dem kleinlicht-neidiſchen Eliminiren
und Hinausdrängen der Tüchtigſten aus dem engeren jeweiligen
Kreis erweist. Aber eine mäßige Entfernung im Raum, ein
nicht zu langer Verfluß der Zeit genügt, um dem beſſeren ideali¬
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[27/0037] So ſehr alſo Heer- und Kriegsdienſt fürs Vaterland ſtörend, unter Umſtänden zerſtörend in das unmittelbar ſinnliche Ergehen des Einzelnen eingreifen mögen, auch die kriegeriſche Begeiſterung als „der zum Kampf aufgebotene Patriotismus“ gehört ſittlich und geiſtig betrachtet unter jene hochwichtigen Momente, in denen der Dienſt des größeren Ganzen die wahrhaft menſchenwürdige Er¬ weiterung und Erhebung des Individuums wirkt, alſo trotz aller äußeren Einbuße doch wahren Gewinn bringt. Auch für das öffentliche Wirken in größerem Gebiet und Umfang, wer Neigung und Beruf dazu in ſich fühlt, liegt in der eigenen Nation ſo recht der „archimediſche Punkt“ (δός μοι ποῦ στῶ), von dem aus die Welt in engeren oder weiteren Kreiſen bewegt werden mag. Wohl iſt es ein bekanntes Wort, daß „der Prophet nichts gilt in ſeinem Vaterland“. Ob aber dieß nicht doch nur von der näheren Umgebung in Raum und Zeit wahr iſt, welche aus allerlei Gründen über der augenfälligen Schaale eines Mannes den Kern leicht überſieht? Die rein empiriſche Betrachtung bleibt an der Erſcheinung hängen: „Iſt er nicht des Zimmermanns Sohn?“ fragt ſie ſelbſt bei den größten Baumeiſtern der Weltgeſchichte. „Kennen wir nicht ſeine Brüder und Schweſtern?“ Darin regt ſich ſchon der Neid, der ſich vor¬ nemlich aufs Nahe und äußerlich Gleichgeordnete wirft, während er bei dem Fernen oder Allzuhohen in ſeiner Vergleichung ver¬ ſtummt. Der atheniſche Oſtrazismus iſt darum ein tief-menſch¬ licher Karakterzug, der ſich bis heutigen Tags noch nicht verloren hat, ſondern hie und da in dem kleinlicht-neidiſchen Eliminiren und Hinausdrängen der Tüchtigſten aus dem engeren jeweiligen Kreis erweist. Aber eine mäßige Entfernung im Raum, ein nicht zu langer Verfluß der Zeit genügt, um dem beſſeren ideali¬ ſirenden Zug der Menſchennatur zum Sieg zu verhelfen, den ver¬ ſchönernden Duft des »olim meminisse juvabit« auf das zunächſt

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Zitationshilfe: Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874/37>, abgerufen am 28.04.2024.