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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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Grundlagen verzichtenden Poetik, die sich der Kritik und Ästhetik ppe_064.002
hoher Dichtung widmet, und einer Literaturgeschichte, die nur Teil ppe_064.003
der Kulturgeschichte wäre und wirkliche Dichtung auszuschließen ppe_064.004
hätte, würden Gipfel getrennt, die in den reinen Äther ragen, und ppe_064.005
Täler, in denen die arbeitenden Menschen sich drängen und jagen; ppe_064.006
dazwischen aber läge eine undurchdringliche Wolkenschicht. So kann ppe_064.007
es indessen unmöglich gemeint sein, daß die für geschichtliche Betrachtung ppe_064.008
freigegebene Rumpfliteratur, der die Dichter fehlen, als ppe_064.009
abgerahmte Magermilch und als Kuchen, aus dem die Rosinen herausgepickt ppe_064.010
sind, übrig bliebe. Vielmehr stehen auch die großen Dichter ppe_064.011
mit ihren Füßen in der Kulturgeschichte, in der die Voraussetzungen ppe_064.012
ihres Werdens liegen; mit Leib, Herz und Sinnen gehören sie der ppe_064.013
Literatur- und Geistesgeschichte ihrer Völker an, die ohne sie nicht ppe_064.014
zu denken ist; nur die Häupter ragen in eine Sphäre, zu der die ppe_064.015
Literaturgeschichte wohl den Ausblick bietet, die aber in ihren überzeitlichen ppe_064.016
Werten den geschichtlichen Bedingungen entrückt ist.

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Mit der ganz anderen Methode einer "Wesensanatomie" bemüht ppe_064.018
sich der Phänomenologe Roman Ingarden, das literarische Kunstwerk ppe_064.019
von dem Grenzfall des wissenschaftlichen Werkes zu trennen. Dem ppe_064.020
wissenschaftlichen Werk wird eine analoge Polyphonie im Schichtenaufbau ppe_064.021
sprachlicher Lautgebilde und Bedeutungseinheiten dargestellter ppe_064.022
Gegenständlichkeiten und schematisierter Ansichten zugestanden, ppe_064.023
nur daß die Gewichtsverteilung eine andere ist. Die eigene Funktion ppe_064.024
des Wissenschaftswerkes wird gesehen im Gebrauch echter Urteile ppe_064.025
und in der Unterordnung der ästhetischen Wertqualitäten unter die ppe_064.026
Festlegung gewonnener Erkenntnisresultate. Aber der Grenzfall tritt ppe_064.027
in Wahrheit erst ein, wenn die Urteile nicht echt sind, sondern sich ppe_064.028
einer künstlerischen Absicht unterordnen, so daß die ästhetischen ppe_064.029
Wertqualitäten über die Erkenntnisresultate dominieren. Auf diese ppe_064.030
Weise kommen zur schönen Literatur die Predigten und politischen ppe_064.031
Reden, die Erzählungen für die Jugend, die Aphorismensammlungen, ppe_064.032
Kritiken und satirischen Skizzen, die Reisebeschreibungen, Selbstbiographien, ppe_064.033
Briefe und Tagebücher, ja fast das ganze Zeitungsfeuilleton. ppe_064.034
Alles kann einen gewissen Anspruch erheben, als sprachliches ppe_064.035
Kunstschaffen angesehen zu werden.

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Wenn man nun als Zwischenfeld zwischen Wissenschaft und Dichtung ppe_064.037
die Belletristik, also die "schöne Literatur" im engeren Sinne, ppe_064.038
ansieht, gelangt man zu einer Abstufung, die mit der Einteilung ppe_064.039
Dragomirescus von "oeuvres pratiques", "oeuvres artistiques" und ppe_064.040
"chefs-d'oeuvre" ziemlich übereinstimmt. Aber das bedeutet eine ppe_064.041
ästhetische Wertskala, wie sie Ingarden vermeiden wollte. Er hatte

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/88>, abgerufen am 23.11.2024.