ppe_554.001 die Mitwelt kaum erkennbar waren. Wer hätte beispielsweise im ppe_554.002 18. Jahrhundert daran gedacht, Klopstock und Kant in einem Atem ppe_554.003 zu nennen? Damit soll nicht gesagt sein, daß die Nachwelt mit ppe_554.004 solcher Zusammenstellung sich in optischer Täuschung befindet; ppe_554.005 manches sieht sie schärfer, indem sie das Fernglas auf überragende ppe_554.006 Gipfel richtet, deren Zusammenhang sich der Mitwelt gar nicht erschließen ppe_554.007 konnte, weil ihr Blick in Tälern und Vorbergen beengt war. ppe_554.008 Erst die Ferne prägt die charakteristische Silhouette des Jahrgangs ppe_554.009 und stellt damit vor Rätsel unergründlicher Ursächlichkeit.
ppe_554.010 Ist es ein Spiel des Zufalls, daß aus der Roulette der Zeit bestimmte ppe_554.011 Zahlen herausspringen, die allen Gewinn auf sich vereinigen? ppe_554.012 Da gab es ein Schicksalsjahr für das Drama, als 1564 Shakespeare, ppe_554.013 Marlowe, Alexandre Hardy und der Herzog Heinrich Julius von ppe_554.014 Braunschweig geboren wurden; da erwies sich das Jahr 1632 der ppe_554.015 Philosophie freundlich, indem es ihr John Locke und Spinoza ppe_554.016 schenkte; 1685 aber wurde die Musik begünstigt, indem Händel, ppe_554.017 Bach, Francesco Maria Veracini und Domenico Scarlatti zur Welt ppe_554.018 kamen. Ein Vergleich mit guten Weinjahren, deren charakteristisches ppe_554.019 Aroma der Kenner aus dem Produkt jeder Lage herausschmeckt, liegt ppe_554.020 nahe, nur daß das Wachstum des Weines innerhalb des gesegneten ppe_554.021 Jahres sich vollendet, während das des Menschen erst beginnt, so daß ppe_554.022 der Vergleich wenigstens bis zur Flaschenreife ausgedehnt werden ppe_554.023 müßte, wobei im Begriff des Jahrgangs die ganze Entwicklungszeit ppe_554.024 zusammenzufassen wäre, die die Gleichaltrigen gemeinsam durchleben. ppe_554.025 Als Jahrgang kommen sie im allgemeinen überhaupt erst zusammen ppe_554.026 mit dem Eintritt in die Schule, mit Militärdienst, Studium, ppe_554.027 Examen, Anstellung und dergleichen. Dabei hat die Altersklasse ppe_554.028 gegenüber dem Geburtenjahrgang schon Verschiebungen erfahren ppe_554.029 durch Zurückbleiben der Spätentwickelten und überhüpfendes Vorwärtsdrängen ppe_554.030 der Frühreifen.
ppe_554.031 Trotzdem bleibt die Erscheinung eines Wurfes der Natur, die sich ppe_554.032 beispielsweise den Taktschlag von zehnjährigen Intervallen auferlegt ppe_554.033 zu haben scheint, als sie Johann Elias Schlegel 1719, Lessing 1729, ppe_554.034 Schubart 1739, Goethe 1749, Schiller 1759 zur Welt kommen ließ. ppe_554.035 Kann dieser Abstand als ganz natürlich angesehen werden, insofern ppe_554.036 dem Jüngeren im entscheidenden Zeitpunkt seiner Entwicklung gerade ppe_554.037 der um 10 Jahre Ältere zum Führer werden mußte, wie es für ppe_554.038 das Verhältnis von Lessing zu Schlegel, von Schiller zu Goethe allenfalls ppe_554.039 gelten darf? Es bleibt in dieser Generationsarithmetik ferner ppe_554.040 ein rätselvolles, auf keine gegenseitige Beeinflussung zurückzuführendes ppe_554.041 Zusammentreffen, daß das Jahr 1813 eine Altersklasse hervorbrachte,
ppe_554.001 die Mitwelt kaum erkennbar waren. Wer hätte beispielsweise im ppe_554.002 18. Jahrhundert daran gedacht, Klopstock und Kant in einem Atem ppe_554.003 zu nennen? Damit soll nicht gesagt sein, daß die Nachwelt mit ppe_554.004 solcher Zusammenstellung sich in optischer Täuschung befindet; ppe_554.005 manches sieht sie schärfer, indem sie das Fernglas auf überragende ppe_554.006 Gipfel richtet, deren Zusammenhang sich der Mitwelt gar nicht erschließen ppe_554.007 konnte, weil ihr Blick in Tälern und Vorbergen beengt war. ppe_554.008 Erst die Ferne prägt die charakteristische Silhouette des Jahrgangs ppe_554.009 und stellt damit vor Rätsel unergründlicher Ursächlichkeit.
ppe_554.010 Ist es ein Spiel des Zufalls, daß aus der Roulette der Zeit bestimmte ppe_554.011 Zahlen herausspringen, die allen Gewinn auf sich vereinigen? ppe_554.012 Da gab es ein Schicksalsjahr für das Drama, als 1564 Shakespeare, ppe_554.013 Marlowe, Alexandre Hardy und der Herzog Heinrich Julius von ppe_554.014 Braunschweig geboren wurden; da erwies sich das Jahr 1632 der ppe_554.015 Philosophie freundlich, indem es ihr John Locke und Spinoza ppe_554.016 schenkte; 1685 aber wurde die Musik begünstigt, indem Händel, ppe_554.017 Bach, Francesco Maria Veracini und Domenico Scarlatti zur Welt ppe_554.018 kamen. Ein Vergleich mit guten Weinjahren, deren charakteristisches ppe_554.019 Aroma der Kenner aus dem Produkt jeder Lage herausschmeckt, liegt ppe_554.020 nahe, nur daß das Wachstum des Weines innerhalb des gesegneten ppe_554.021 Jahres sich vollendet, während das des Menschen erst beginnt, so daß ppe_554.022 der Vergleich wenigstens bis zur Flaschenreife ausgedehnt werden ppe_554.023 müßte, wobei im Begriff des Jahrgangs die ganze Entwicklungszeit ppe_554.024 zusammenzufassen wäre, die die Gleichaltrigen gemeinsam durchleben. ppe_554.025 Als Jahrgang kommen sie im allgemeinen überhaupt erst zusammen ppe_554.026 mit dem Eintritt in die Schule, mit Militärdienst, Studium, ppe_554.027 Examen, Anstellung und dergleichen. Dabei hat die Altersklasse ppe_554.028 gegenüber dem Geburtenjahrgang schon Verschiebungen erfahren ppe_554.029 durch Zurückbleiben der Spätentwickelten und überhüpfendes Vorwärtsdrängen ppe_554.030 der Frühreifen.
ppe_554.031 Trotzdem bleibt die Erscheinung eines Wurfes der Natur, die sich ppe_554.032 beispielsweise den Taktschlag von zehnjährigen Intervallen auferlegt ppe_554.033 zu haben scheint, als sie Johann Elias Schlegel 1719, Lessing 1729, ppe_554.034 Schubart 1739, Goethe 1749, Schiller 1759 zur Welt kommen ließ. ppe_554.035 Kann dieser Abstand als ganz natürlich angesehen werden, insofern ppe_554.036 dem Jüngeren im entscheidenden Zeitpunkt seiner Entwicklung gerade ppe_554.037 der um 10 Jahre Ältere zum Führer werden mußte, wie es für ppe_554.038 das Verhältnis von Lessing zu Schlegel, von Schiller zu Goethe allenfalls ppe_554.039 gelten darf? Es bleibt in dieser Generationsarithmetik ferner ppe_554.040 ein rätselvolles, auf keine gegenseitige Beeinflussung zurückzuführendes ppe_554.041 Zusammentreffen, daß das Jahr 1813 eine Altersklasse hervorbrachte,
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/578>, abgerufen am 23.11.2024.
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