ppe_523.001 und Gehalt. Im Gegenteil. Wie sich ihre Gestalt in Zeitfolge ppe_523.002 entfaltet, so macht auch ihr Gehalt Anspruch auf Zeit zur vollendeten ppe_523.003 Wiedergabe, zur Mehrung des Verständnisses, zur ausgebreiteten Anerkennung.
ppe_523.004
ppe_523.005 Während ein berühmtes Kunstwerk Scharen von Bewunderern aus ppe_523.006 weitester Ferne zu sich in seinen Raum zieht, werden die Werke der ppe_523.007 Musik, die keiner Übertragung in andere Sprachen bedürfen, durch ppe_523.008 persönliche Interpretation unter Wahrung der von ihrem Schöpfer ppe_523.009 bestimmten Form in unermeßliche Weiten getragen; aber auch die ppe_523.010 Werke der Dichtkunst als gesellschaftliche Ereignisse erobern sich ppe_523.011 mit der Zeit Wirkungsräume von Dauer, ohne daß sie in Weltwanderung ppe_523.012 und Zeitenwandel die Wurzeln ihrer Herkunft verlieren.
ppe_523.013 Man kann auch sagen, daß sich die geschichtlichen Bedingungen ppe_523.014 der Ausbreitungsmöglichkeit ebenso verändern wie die Reproduktionsmöglichkeiten ppe_523.015 der bildenden Kunst oder der Musik. Die Wirkungsräume ppe_523.016 sind in steter Ausdehnung begriffen. Wenn vor dem Buchdruck ppe_523.017 der auf einen kleinen Kreis beschränkte Vortrag durch den ppe_523.018 Dichter die intensivste Wirkungsmöglichkeit war, so ist mit Gutenbergs ppe_523.019 Erfindung die Verbreitungsmöglichkeit des Lesestoffes unermeßlich ppe_523.020 gesteigert. Aber die neue Zeit führt darüber hinaus; sie ppe_523.021 bringt mit dem Rundfunk die Überwindung aller räumlichen Grenzen ppe_523.022 und mit der Schallplatte die Möglichkeit, die Stimme des Dichters in ppe_523.023 ihrem persönlichen Eindruck über alle Zeiten hinaus aufzubewahren. ppe_523.024 Freilich, was auf der einen Seite an Verbreitung und Dauer gewonnen ppe_523.025 wird, geht auf der anderen Seite durch Oberflächlichkeit des Masseneindrucks ppe_523.026 verloren. Und es bleiben Grenzen des Wirkungsraumes, die ppe_523.027 durch den Bereich der Sprache und ihres Verständnisses gezogen sind.
ppe_523.028 Neuere Dichter haben die Bewegungsrichtung Herders umgekehrt ppe_523.029 und den Weg der Dichtkunst aus der flüchtigen Zeit in den ewigen ppe_523.030 Raum führen lassen. Aber sie verstanden den Zeitraum der Ewigkeit ppe_523.031 und die vorübergehende Raumzeit des alltäglichen Lebens. Rilke ppe_523.032 sprach davon, daß das Kunst-Ding von allem Zufall fortgenommen, ppe_523.033 jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben ppe_523.034 erst zur Dauer gelange und die Fähigkeit zur Ewigkeit erwerbe. ppe_523.035 Er sah das eigentliche Sein des Kunstwerkes und seiner Dauer darin ppe_523.036 begründet, daß es sich einen eigenen Raum erzeuge, der nur dem ppe_523.037 oberflächlichen Hinsehen identisch erscheine mit der öffentlichen ppe_523.038 Räumlichkeit. Den Gedichten Trakls konnte er das Lob spenden, daß ppe_523.039 sie einen eigenen geistigen Raum besäßen. Und seine eigene Dichtung ppe_523.040 begründet die Flucht vor dem engen Lebensraum und die Abkehr von ppe_523.041 denen, die ihn lieben:
ppe_523.001 und Gehalt. Im Gegenteil. Wie sich ihre Gestalt in Zeitfolge ppe_523.002 entfaltet, so macht auch ihr Gehalt Anspruch auf Zeit zur vollendeten ppe_523.003 Wiedergabe, zur Mehrung des Verständnisses, zur ausgebreiteten Anerkennung.
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ppe_523.005 Während ein berühmtes Kunstwerk Scharen von Bewunderern aus ppe_523.006 weitester Ferne zu sich in seinen Raum zieht, werden die Werke der ppe_523.007 Musik, die keiner Übertragung in andere Sprachen bedürfen, durch ppe_523.008 persönliche Interpretation unter Wahrung der von ihrem Schöpfer ppe_523.009 bestimmten Form in unermeßliche Weiten getragen; aber auch die ppe_523.010 Werke der Dichtkunst als gesellschaftliche Ereignisse erobern sich ppe_523.011 mit der Zeit Wirkungsräume von Dauer, ohne daß sie in Weltwanderung ppe_523.012 und Zeitenwandel die Wurzeln ihrer Herkunft verlieren.
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/547>, abgerufen am 25.11.2024.
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