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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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FRAGMENTE UND VORARBEITEN ppe_465.002
ZUM DRITTEN UND VIERTEN BUCH
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Aus dem Nachlaß
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SYNTHETISCHE LITERATURWISSENSCHAFT
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Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt ppe_465.007
und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist ppe_465.008
nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, ppe_465.009
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Goethe

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1. Werke und Gattungen

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Das Schlagwort "synthetische Literaturgeschichte", das der geisteswissenschaftlichen ppe_465.014
Revolution zu Anfang unseres Jahrhunderts entstammt, ppe_465.015
bedeutete als neue Losung eine in Vergessenheit geratene ppe_465.016
Selbstverständlichkeit. Es war eine Art Pleonasmus, denn jede Geschichtsdarstellung ppe_465.017
muß synthetisch sein und strebt in zusammenfassendem ppe_465.018
Aufbau über die Analyse hinaus.

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beigelegt wurde, war um so widersinniger, denn die Mittel der Zerlegung, ppe_465.021
der immer ein geschlossenes Einzelnes zugrunde liegen muß, ppe_465.022
sei es ein Wortsinn, ein Satz, eine Strophe, der Ausdruck einer Stimmung, ppe_465.023
ein ganzes Werk oder die Seele des Dichters, können zu geschichtlichem ppe_465.024
Aufbau nicht führen. Selbst große Einheiten, die in ppe_465.025
Vielfältigkeit bestehen, wie der Charakter einer Familie, eines Stammes, ppe_465.026
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Ideengut eines Kreises, einer Generation, das Wesen einer geistigen ppe_465.028
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die einheitlichen Züge auf ihre verschiedenen Ursachen zurückgeführt ppe_465.030
werden. Das Ergebnis solcher Untersuchung ist Voraussetzung

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. E465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/489>, abgerufen am 19.05.2024.