ppe_439.001 Über dieses Fertigsein haben sich allerdings viele Dichter, die die ppe_439.002 Ausführung unterschätzten, großen Selbsttäuschungen hingegeben, ppe_439.003 weshalb die eigenen Angaben, z. B. bei Lessing und bei Gottfried ppe_439.004 Keller, nicht immer ganz zuverlässig sind. Goethe hat sich zur Fertigstellung ppe_439.005 einmal zwingen wollen, indem er sich vornahm, für das ppe_439.006 Epos "Die Geheimnisse" an jedem Tag des Kalenders eine Stanze ppe_439.007 zu absolvieren. Aber dieses Kommandieren der Poesie widersprach ppe_439.008 seiner Natur. Die italienische Reise erlöste ihn aus der Gewaltsamkeit ppe_439.009 und führte sein Schaffen zum natürlichen Ausreifen zurück.
ppe_439.010 Auf Reisen wurde Goethes Schaffenstrieb besonders angeregt. Am ppe_439.011 Ufer des Gardasees fand sich die endgültige Form der "Iphigenie". ppe_439.012 Auf der erwähnten Fahrt nach Gotha (5. Juni 1780) hatte er seine ppe_439.013 Lieblings-Situation im "Wilhelm Meister" ausgeführt: "Ich ließ den ppe_439.014 ganzen Detail in mir entstehen und fing zuletzt so bitterlich zu weinen ppe_439.015 an, daß ich eben zeitig genug nach Gotha kam." Ganze Gedichte ppe_439.016 kamen im Reisewagen zustande; die Verse "An Schwager Kronos" ppe_439.017 tragen den Untertitel: "In der Postchaise 10. Okt. 1774"; vierzig ppe_439.018 Jahre darnach (am 25. Juli 1814) flogen ihm auf der Fahrt nach der ppe_439.019 Heimat in der Erfurter Gegend drei Gedichte des "Westöstlichen ppe_439.020 Diwan" zu, und noch die "Marienbader Elegie" verdankte ihre Unmittelbarkeit ppe_439.021 der Entstehung auf der Heimreise: "Morgens acht Uhr ppe_439.022 auf der ersten Station schrieb ich die erste Strophe, und so dichtete ppe_439.023 ich im Wagen fort und schrieb von Station zu Station das im Gedächtnis ppe_439.024 Gefaßte nieder, so daß es Abends fertig auf dem Papier ppe_439.025 stand."
ppe_439.026 Durch die minder besinnliche moderne Hast des Reisens scheint ppe_439.027 die ambulante Produktion weniger begünstigt zu sein, wenn auch ppe_439.028 der geübte Journalist heute seine Schreibmaschine mit ins Flugzeug ppe_439.029 nimmt. Der fliegende Poet ist eine Zukunfts-Utopie. Aber der Behauptung, ppe_439.030 daß die Eisenbahn der Tod der Poesie sei, wurde schon ppe_439.031 von vielen Dichtern widersprochen. Peter Rosegger bekannte, daß ppe_439.032 er im Eisenbahnwagen leicht und viel gearbeitet habe, und Cäsar ppe_439.033 Flaischlen fühlte sich nirgends freier und wohler: "Man kann dort ppe_439.034 nichts tun, nichts, als allenfalls Verse machen."
ppe_439.035 Voraussetzung der fliegenden Arbeitsweise ist allerdings, daß man ppe_439.036 nicht einen Berg von Vorarbeiten zu bewältigen braucht, wie Jean ppe_439.037 Paul, der nach den Zettelkästen sogar seine Romankapitel im ppe_439.038 "Quintus Fixlein" bezeichnete. Auch Otto Ludwig, von dem die berühmtesten ppe_439.039 Beispiele visionärer innerer Schau stammen, war durch ppe_439.040 seine Arbeitsweise wie durch seine Gesundheit an den Schreibtisch ppe_439.041 gefesselt. Liegen doch die Vorarbeiten zu seiner "Agnes Bernauer"
ppe_439.001 Über dieses Fertigsein haben sich allerdings viele Dichter, die die ppe_439.002 Ausführung unterschätzten, großen Selbsttäuschungen hingegeben, ppe_439.003 weshalb die eigenen Angaben, z. B. bei Lessing und bei Gottfried ppe_439.004 Keller, nicht immer ganz zuverlässig sind. Goethe hat sich zur Fertigstellung ppe_439.005 einmal zwingen wollen, indem er sich vornahm, für das ppe_439.006 Epos „Die Geheimnisse“ an jedem Tag des Kalenders eine Stanze ppe_439.007 zu absolvieren. Aber dieses Kommandieren der Poesie widersprach ppe_439.008 seiner Natur. Die italienische Reise erlöste ihn aus der Gewaltsamkeit ppe_439.009 und führte sein Schaffen zum natürlichen Ausreifen zurück.
ppe_439.010 Auf Reisen wurde Goethes Schaffenstrieb besonders angeregt. Am ppe_439.011 Ufer des Gardasees fand sich die endgültige Form der „Iphigenie“. ppe_439.012 Auf der erwähnten Fahrt nach Gotha (5. Juni 1780) hatte er seine ppe_439.013 Lieblings-Situation im „Wilhelm Meister“ ausgeführt: „Ich ließ den ppe_439.014 ganzen Detail in mir entstehen und fing zuletzt so bitterlich zu weinen ppe_439.015 an, daß ich eben zeitig genug nach Gotha kam.“ Ganze Gedichte ppe_439.016 kamen im Reisewagen zustande; die Verse „An Schwager Kronos“ ppe_439.017 tragen den Untertitel: „In der Postchaise 10. Okt. 1774“; vierzig ppe_439.018 Jahre darnach (am 25. Juli 1814) flogen ihm auf der Fahrt nach der ppe_439.019 Heimat in der Erfurter Gegend drei Gedichte des „Westöstlichen ppe_439.020 Diwan“ zu, und noch die „Marienbader Elegie“ verdankte ihre Unmittelbarkeit ppe_439.021 der Entstehung auf der Heimreise: „Morgens acht Uhr ppe_439.022 auf der ersten Station schrieb ich die erste Strophe, und so dichtete ppe_439.023 ich im Wagen fort und schrieb von Station zu Station das im Gedächtnis ppe_439.024 Gefaßte nieder, so daß es Abends fertig auf dem Papier ppe_439.025 stand.“
ppe_439.026 Durch die minder besinnliche moderne Hast des Reisens scheint ppe_439.027 die ambulante Produktion weniger begünstigt zu sein, wenn auch ppe_439.028 der geübte Journalist heute seine Schreibmaschine mit ins Flugzeug ppe_439.029 nimmt. Der fliegende Poet ist eine Zukunfts-Utopie. Aber der Behauptung, ppe_439.030 daß die Eisenbahn der Tod der Poesie sei, wurde schon ppe_439.031 von vielen Dichtern widersprochen. Peter Rosegger bekannte, daß ppe_439.032 er im Eisenbahnwagen leicht und viel gearbeitet habe, und Cäsar ppe_439.033 Flaischlen fühlte sich nirgends freier und wohler: „Man kann dort ppe_439.034 nichts tun, nichts, als allenfalls Verse machen.“
ppe_439.035 Voraussetzung der fliegenden Arbeitsweise ist allerdings, daß man ppe_439.036 nicht einen Berg von Vorarbeiten zu bewältigen braucht, wie Jean ppe_439.037 Paul, der nach den Zettelkästen sogar seine Romankapitel im ppe_439.038 „Quintus Fixlein“ bezeichnete. Auch Otto Ludwig, von dem die berühmtesten ppe_439.039 Beispiele visionärer innerer Schau stammen, war durch ppe_439.040 seine Arbeitsweise wie durch seine Gesundheit an den Schreibtisch ppe_439.041 gefesselt. Liegen doch die Vorarbeiten zu seiner „Agnes Bernauer“
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Auf Reisen wurde Goethes Schaffenstrieb besonders angeregt. Am ppe_439.011
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Auf der erwähnten Fahrt nach Gotha (5. Juni 1780) hatte er seine ppe_439.013
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Flaischlen fühlte sich nirgends freier und wohler: „Man kann dort ppe_439.034
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/463>, abgerufen am 25.11.2024.
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