ppe_401.001 Hebbel die dichterische Phantasie mit dem traumhaften Dasein des ppe_401.002 Kindes vergleichen können. Das Kind entfaltet seine Einbildungskraft ppe_401.003 im Spiel und wird in Belebung toter wie Zerstörung lebender ppe_401.004 Gegenstände zum waltenden Schicksal seiner Eigenwelt. Das spielende ppe_401.005 Kind offenbart seine Anlage zum Dichter und Schauspieler, so ppe_401.006 wie im zeichnenden Kind unverbildete künstlerische Begabung ans ppe_401.007 Licht tritt. Aber nur Begabung und Anlage. Noch fehlt Erlebnis, ppe_401.008 Erfahrung und gereiftes Weltbild, um Wirklichkeit zu gestalten. ppe_401.009 Deshalb gibt es auch selten dichterische Wunderkinder. Mozart und ppe_401.010 Haydn haben schon mit drei und vier Jahren als schöpferische ppe_401.011 Musiker Staunen erregt, während dichterische Gestaltungsgabe ppe_401.012 frühestens mit der Pubertät in Erscheinung zu treten pflegt. Eine ppe_401.013 Ausnahme eigener Art bildet der englische Vorromantiker Thomas ppe_401.014 Chatterton, der sein erstes Werk "Elinour and Juga" mit zwölf Jahren ppe_401.015 geschrieben haben soll. Er vergiftete sich mit 18 Jahren; das ppe_401.016 Wunderkind war nach Bernhard Fehrs Charakteristik größer als der ppe_401.017 Wunderdichter.
ppe_401.018 Als Graf Tolstoi auf den Gedanken kam, in seiner kleinen Volksschule ppe_401.019 die dichterische Fähigkeit der Bauernkinder auf die Probe zu ppe_401.020 stellen, ließ er sie ein von ihm begonnenes Märchen fortsetzen und ppe_401.021 konnte mit Erstaunen und Entzücken beobachten, welcher Reichtum ppe_401.022 an Phantasie sich offenbarte. Aber sein Eindruck, daß der berühmteste ppe_401.023 Dichter keine so wundersamen Märchen hätte ersinnen können, ppe_401.024 wie sie die unerfahrene Dorfjugend spielend zusammenbrachte, war ppe_401.025 insofern ein Trugschluß, als er selbst es ja war, der zu erzählen anfing; ppe_401.026 er warf den Kindern den Faden hin, den sie unter seiner Suggestion ppe_401.027 weiterzuspinnen hatten. Zu eigener Konzeption wären sie ppe_401.028 schwerlich fähig gewesen. Außerdem waren es Märchen, und wenn ppe_401.029 allein diese Dichtungsart mit kindlicher Phantasie erfaßt werden ppe_401.030 kann, so liegt es daran, daß ihr leichtes Spiel allen ernsten Lebensproblemen ppe_401.031 aus dem Weg geht.
ppe_401.032 Das aber unterscheidet die Phantasie des Erwachsenen und auch ppe_401.033 sein Traumleben von dem des Kindes, daß es mit Problemen belastet ppe_401.034 ist, und daß die Einbildungskraft nicht nur spielend, sondern auch ppe_401.035 denkend sich betätigt. So wenig das wissenschaftliche Denken der ppe_401.036 Mitwirkung der Phantasie entraten kann, so wenig darf dichterische ppe_401.037 Phantasie gedankenlos sein. Es gibt auch ein Denken im Unterbewußtsein. ppe_401.038 Goethe will im Schlaf auf wissenschaftliche Entdeckungen gekommen ppe_401.039 sein; er faßte die Inspiration im Traum als Wirken des Dämonischen ppe_401.040 auf, das übermächtig mit dem Menschen spielt, während er ppe_401.041 aus eigenem Antrieb zu handeln glaubt. "In solchen Fällen ist der
ppe_401.001 Hebbel die dichterische Phantasie mit dem traumhaften Dasein des ppe_401.002 Kindes vergleichen können. Das Kind entfaltet seine Einbildungskraft ppe_401.003 im Spiel und wird in Belebung toter wie Zerstörung lebender ppe_401.004 Gegenstände zum waltenden Schicksal seiner Eigenwelt. Das spielende ppe_401.005 Kind offenbart seine Anlage zum Dichter und Schauspieler, so ppe_401.006 wie im zeichnenden Kind unverbildete künstlerische Begabung ans ppe_401.007 Licht tritt. Aber nur Begabung und Anlage. Noch fehlt Erlebnis, ppe_401.008 Erfahrung und gereiftes Weltbild, um Wirklichkeit zu gestalten. ppe_401.009 Deshalb gibt es auch selten dichterische Wunderkinder. Mozart und ppe_401.010 Haydn haben schon mit drei und vier Jahren als schöpferische ppe_401.011 Musiker Staunen erregt, während dichterische Gestaltungsgabe ppe_401.012 frühestens mit der Pubertät in Erscheinung zu treten pflegt. Eine ppe_401.013 Ausnahme eigener Art bildet der englische Vorromantiker Thomas ppe_401.014 Chatterton, der sein erstes Werk „Elinour and Juga“ mit zwölf Jahren ppe_401.015 geschrieben haben soll. Er vergiftete sich mit 18 Jahren; das ppe_401.016 Wunderkind war nach Bernhard Fehrs Charakteristik größer als der ppe_401.017 Wunderdichter.
ppe_401.018 Als Graf Tolstoi auf den Gedanken kam, in seiner kleinen Volksschule ppe_401.019 die dichterische Fähigkeit der Bauernkinder auf die Probe zu ppe_401.020 stellen, ließ er sie ein von ihm begonnenes Märchen fortsetzen und ppe_401.021 konnte mit Erstaunen und Entzücken beobachten, welcher Reichtum ppe_401.022 an Phantasie sich offenbarte. Aber sein Eindruck, daß der berühmteste ppe_401.023 Dichter keine so wundersamen Märchen hätte ersinnen können, ppe_401.024 wie sie die unerfahrene Dorfjugend spielend zusammenbrachte, war ppe_401.025 insofern ein Trugschluß, als er selbst es ja war, der zu erzählen anfing; ppe_401.026 er warf den Kindern den Faden hin, den sie unter seiner Suggestion ppe_401.027 weiterzuspinnen hatten. Zu eigener Konzeption wären sie ppe_401.028 schwerlich fähig gewesen. Außerdem waren es Märchen, und wenn ppe_401.029 allein diese Dichtungsart mit kindlicher Phantasie erfaßt werden ppe_401.030 kann, so liegt es daran, daß ihr leichtes Spiel allen ernsten Lebensproblemen ppe_401.031 aus dem Weg geht.
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/425>, abgerufen am 22.11.2024.
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