ppe_389.001 Scherers Positivismus die Phantasie als "verwandelnde Reproduktion" ppe_389.002 mit dem Gedächtnis gleichsetzen wollen. Ernst Elster, der in ppe_389.003 seinen "Prinzipien der Literaturwissenschaft" gegen diese Entwürdigung ppe_389.004 Einspruch erhob, betont mit Recht, daß die Beschaffenheit ppe_389.005 der einzelnen Vorstellungen von der Frage nach ihrem Verlauf zu ppe_389.006 trennen sei. Das einzelne Erinnerungsbild sinnlicher Wahrnehmung ppe_389.007 mag in der Phantasie mit verstärkter Deutlichkeit wiederkehren, aber ppe_389.008 die Verknüpfung, die sich als Denken in Bildern darstellt, wird ppe_389.009 schließlich zu einem schöpferischen Vorgang, der auch der willensmäßigen ppe_389.010 Regelung nicht entbehrt.
ppe_389.011 Unter Zugrundelegung der Wundtschen Unterscheidung von anschaulicher ppe_389.012 und kombinatorischer Phantasie analysierte Elster die ppe_389.013 verschiedenartige Phantasiebegabung Goethes, Schillers und Lessings ppe_389.014 mit dem Ergebnis, daß bei Goethe die Gegenständlichkeit und Anschaulichkeit ppe_389.015 im Übergewicht ist gegenüber der kombinatorischen ppe_389.016 und erfinderischen Fähigkeit; bei Schiller dagegen stehen schnelle ppe_389.017 Assoziation und stärkerer Anteil des Verstandes einer geringeren ppe_389.018 Anschaulichkeit gegenüber; bei Lessing ist der induktive Verstand ppe_389.019 (nicht der deduktive wie bei Schiller) stärker entwickelt, während die ppe_389.020 kombinatorische und assoziative Phantasie gegenüber der Anschaulichkeit ppe_389.021 im Hintergrund bleibt.
ppe_389.022 Wollte man diese auf die Klassiker angewandten Grundbegriffe ppe_389.023 auch bei Analyse der Romantiker im Auge haben, so würde durchgehend, ppe_389.024 wenn auch in verschiedenem Grade, ein stärkeres Zurücktreten ppe_389.025 des Verstandes- und Willensmäßigen, ein weit freieres Walten ppe_389.026 des Unbewußten, ein Eintauchen in das Traumleben und demgemäß ppe_389.027 eine mehr sprunghaft assoziative als gegenständlich anschauliche ppe_389.028 Phantasie zu beobachten sein. Es bleibt aber die Frage, wie weit ppe_389.029 hier die ererbte Anlage, mit der ein bestimmter Typus nach den ppe_389.030 Forderungen der Zeitströmung in den Vordergrund gedrängt wird, ppe_389.031 oder das Stilgesetz, das die Anlage nach bestimmter einseitiger Richtung ppe_389.032 lenkt, von ausschlaggebender Wirkung ist. Wenn ein Vollromantiker ppe_389.033 wie Clemens Brentano im Alter darüber klagt, daß er ppe_389.034 zeitlebens seine Phantasie verhätschelte und überfütterte und dafür ppe_389.035 schließlich von ihr aufgefressen worden sei, so konnte er dafür mehr ppe_389.036 die Stilrichtung der Zeit verantwortlich machen, als seine romanische ppe_389.037 Abstammung. Anderseits hat ein Theodor Fontane, den man als rationalen ppe_389.038 Sinnenmenschen charakterisiert hat, seine mehr anschauliche ppe_389.039 als kombinatorische Phantasie im Zeitalter des Realismus zugunsten ppe_389.040 psychologischer Folgerichtigkeit verkümmern lassen, und es ist die ppe_389.041 Frage, wie weit daran die französische Abstammung Anteil hatte.
ppe_389.001 Scherers Positivismus die Phantasie als „verwandelnde Reproduktion“ ppe_389.002 mit dem Gedächtnis gleichsetzen wollen. Ernst Elster, der in ppe_389.003 seinen „Prinzipien der Literaturwissenschaft“ gegen diese Entwürdigung ppe_389.004 Einspruch erhob, betont mit Recht, daß die Beschaffenheit ppe_389.005 der einzelnen Vorstellungen von der Frage nach ihrem Verlauf zu ppe_389.006 trennen sei. Das einzelne Erinnerungsbild sinnlicher Wahrnehmung ppe_389.007 mag in der Phantasie mit verstärkter Deutlichkeit wiederkehren, aber ppe_389.008 die Verknüpfung, die sich als Denken in Bildern darstellt, wird ppe_389.009 schließlich zu einem schöpferischen Vorgang, der auch der willensmäßigen ppe_389.010 Regelung nicht entbehrt.
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/413>, abgerufen am 22.11.2024.
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