ppe_361.001 kann stärker als irgendein Liebeserlebnis die ganze Struktur des Daseins ppe_361.002 erschüttern. So bedeutet das Erlebnis der mißverstandenen Kantschen ppe_361.003 Philosophie einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung ppe_361.004 Heinrich v. Kleists; der bisherige Lebensplan, der sein einziges ppe_361.005 und höchstes Ziel gebildet hatte, sank zusammen, während die dichterische ppe_361.006 Tat als neue Lebensaufgabe sich Bahn brach. Eine positivere ppe_361.007 Offenbarung erlebte Schiller, für den der Freiheitsgedanke, den er als ppe_361.008 physisches Postulat seit der Unterdrückung seiner Jugend in sich trug, ppe_361.009 durch Kants Lehre zur Idee moralischer Freiheit erhoben wurde. Wenn ppe_361.010 man nun Schillers Gedankenlyrik zur Goetheschen Erlebnislyrik in ppe_361.011 Gegensatz stellt, so wird man ihr den Erlebnisgehalt keineswegs abstreiten ppe_361.012 können; nur ist weniger das Erlebnis selbst als vielmehr sein ppe_361.013 Ergebnis in der Dichtung gestaltet.
ppe_361.014 Nicht minder umwälzend als das Kant-Erlebnis für Schiller und ppe_361.015 Kleist ist für Hölderlin der Eindruck Fichtes, für Gottfried Keller ppe_361.016 der der Feuerbachschen Philosophie geworden; diese Gedankenerlebnisse ppe_361.017 stellt Ermatinger als charakteristisch für die Erlebnisart des ppe_361.018 Lyrikers und des Epikers dem dramatischen Kant-Erlebnis Kleists ppe_361.019 gegenüber.
ppe_361.020 Wenn sinnliche Erlebnisse, Begriffserlebnisse und Ideen-Erlebnisse ppe_361.021 zu unterscheiden sind, so gehen die ersten, deren irrationaler Charakter ppe_361.022 sich schwer in Begriffe auflösen läßt, unmittelbar in die Dichtung ppe_361.023 über und können deren Stoff werden. Es gehört, wie oben ppe_361.024 (S. 114, 124, 175) gesagt wurde, zum Gattungscharakter der Lyrik, ppe_361.025 daß sie keinen von außen überkommenen Stoff braucht, sondern das ppe_361.026 Erlebnis unmittelbar gestaltet. Die Erfahrung philosophischer Begriffe, ppe_361.027 die als zweite Kategorie gelten muß, bleibt der unmittelbaren ppe_361.028 dichterischen Anschauung ferner; aber sie kann zu einer die Probleme ppe_361.029 beleuchtenden Aussprache gebracht werden, sowohl in der dramatischen, ppe_361.030 als in der epischen Dichtung, namentlich im Roman. Ordnet ppe_361.031 sich in der dritten Kategorie das Gefühlserlebnis einem Ideenzusammenhang ppe_361.032 ein, so kann das Begriffliche zur Anschauung gelangen, ppe_361.033 und die Anschauung ist begrifflich zu fassen. Die Spannung aber führt ppe_361.034 zu Problemen, die vor allem als Triebfedern der dramatischen Dichtung ppe_361.035 zur Wirkung gelangen.
ppe_361.036 d) Erlebnisqualität
ppe_361.037 Emil Ermatingers Poetik, die "das dichterische Kunstwerk" aus ppe_361.038 den Erlebnissen herleitet, erweitert die Terminologie, indem Gedankenerlebnis, ppe_361.039 Stofferlebnis, Formerlebnis als eine Kette aneinander ppe_361.040 gereiht werden, so daß sich beinahe der ganze Schaffensvorgang an
ppe_361.001 kann stärker als irgendein Liebeserlebnis die ganze Struktur des Daseins ppe_361.002 erschüttern. So bedeutet das Erlebnis der mißverstandenen Kantschen ppe_361.003 Philosophie einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung ppe_361.004 Heinrich v. Kleists; der bisherige Lebensplan, der sein einziges ppe_361.005 und höchstes Ziel gebildet hatte, sank zusammen, während die dichterische ppe_361.006 Tat als neue Lebensaufgabe sich Bahn brach. Eine positivere ppe_361.007 Offenbarung erlebte Schiller, für den der Freiheitsgedanke, den er als ppe_361.008 physisches Postulat seit der Unterdrückung seiner Jugend in sich trug, ppe_361.009 durch Kants Lehre zur Idee moralischer Freiheit erhoben wurde. Wenn ppe_361.010 man nun Schillers Gedankenlyrik zur Goetheschen Erlebnislyrik in ppe_361.011 Gegensatz stellt, so wird man ihr den Erlebnisgehalt keineswegs abstreiten ppe_361.012 können; nur ist weniger das Erlebnis selbst als vielmehr sein ppe_361.013 Ergebnis in der Dichtung gestaltet.
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/385>, abgerufen am 23.11.2024.
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