Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pestalozzi, Johann Heinrich: Lienhard und Gertrud. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

ins Grab gelegt hätte; aber er wollte auch
da er am äußersten war, vom Tod nichts
hören, sagte des Tags seine zwanzig und
dreyßigmal, auch wenn ihn kein Mensch
fragte, es fehle im nur im Kopf und in
den Gliedern, um's Herz sey er so gesund
als ein Reynegli. --(*)

Er zwang sich, da er weder stehen noch
gehen konnte, alle Tage aus dem Beth,
ließ alle Tag, wenn er auch fast nicht reden
konnte, diesen oder jenen zu sich kommen,
um etwas zu meistern oder zanken zu können.

Jedermann gab ihm natürlich während der
Krankheit vor Augen und hinterm Tisch gu-
te Wort; aber jedermann suchte auch wie-
der so geschwind möglich von ihm wegzukom-
men. Und die Forcht vor ihm minderte im
ganzen Dorf; es wußte es ein jeder, daß es
ihn aufbringe, wenn man ihm sagte, er habe
so stark abgenommen, oder er sehe noch so
übel aus, und doch gieng fast kein Tag vor-
über, daß das nicht jemand, und meisten-
theils noch aus Bosheit zu ihm sagte. --
Er mußte sieben Wochen nach der Krank-
heit noch am Stabe gehen, und sah um
zehn Jahr älter aus.

Je-
(*) Reynegli, ein kleiner Fisch, der ein sehr star-
kes Leben haben soll.

ins Grab gelegt haͤtte; aber er wollte auch
da er am aͤußerſten war, vom Tod nichts
hoͤren, ſagte des Tags ſeine zwanzig und
dreyßigmal, auch wenn ihn kein Menſch
fragte, es fehle im nur im Kopf und in
den Gliedern, um's Herz ſey er ſo geſund
als ein Reynegli. —(*)

Er zwang ſich, da er weder ſtehen noch
gehen konnte, alle Tage aus dem Beth,
ließ alle Tag, wenn er auch faſt nicht reden
konnte, dieſen oder jenen zu ſich kommen,
um etwas zu meiſtern oder zanken zu koͤnnen.

Jedermann gab ihm natuͤrlich waͤhrend der
Krankheit vor Augen und hinterm Tiſch gu-
te Wort; aber jedermann ſuchte auch wie-
der ſo geſchwind moͤglich von ihm wegzukom-
men. Und die Forcht vor ihm minderte im
ganzen Dorf; es wußte es ein jeder, daß es
ihn aufbringe, wenn man ihm ſagte, er habe
ſo ſtark abgenommen, oder er ſehe noch ſo
uͤbel aus, und doch gieng faſt kein Tag vor-
uͤber, daß das nicht jemand, und meiſten-
theils noch aus Bosheit zu ihm ſagte. —
Er mußte ſieben Wochen nach der Krank-
heit noch am Stabe gehen, und ſah um
zehn Jahr aͤlter aus.

Je-
(*) Reynegli, ein kleiner Fiſch, der ein ſehr ſtar-
kes Leben haben ſoll.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0333" n="315"/>
ins Grab gelegt ha&#x0364;tte; aber er wollte auch<lb/>
da er am a&#x0364;ußer&#x017F;ten war, vom Tod nichts<lb/>
ho&#x0364;ren, &#x017F;agte des Tags &#x017F;eine zwanzig und<lb/>
dreyßigmal, auch wenn ihn kein Men&#x017F;ch<lb/>
fragte, es fehle im nur im Kopf und in<lb/>
den Gliedern, um's Herz &#x017F;ey er &#x017F;o ge&#x017F;und<lb/>
als ein Reynegli. &#x2014;<note place="foot" n="(*)">Reynegli, ein kleiner Fi&#x017F;ch, der ein &#x017F;ehr &#x017F;tar-<lb/>
kes Leben haben &#x017F;oll.</note></p><lb/>
          <p>Er zwang &#x017F;ich, da er weder &#x017F;tehen noch<lb/>
gehen konnte, alle Tage aus dem Beth,<lb/>
ließ alle Tag, wenn er auch fa&#x017F;t nicht reden<lb/>
konnte, die&#x017F;en oder jenen zu &#x017F;ich kommen,<lb/>
um etwas zu mei&#x017F;tern oder zanken zu ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p>Jedermann gab ihm natu&#x0364;rlich wa&#x0364;hrend der<lb/>
Krankheit vor Augen und hinterm Ti&#x017F;ch gu-<lb/>
te Wort; aber jedermann &#x017F;uchte auch wie-<lb/>
der &#x017F;o ge&#x017F;chwind mo&#x0364;glich von ihm wegzukom-<lb/>
men. Und die Forcht vor ihm minderte im<lb/>
ganzen Dorf; es wußte es ein jeder, daß es<lb/>
ihn aufbringe, wenn man ihm &#x017F;agte, er habe<lb/>
&#x017F;o &#x017F;tark abgenommen, oder er &#x017F;ehe noch &#x017F;o<lb/>
u&#x0364;bel aus, und doch gieng fa&#x017F;t kein Tag vor-<lb/>
u&#x0364;ber, daß das nicht jemand, und mei&#x017F;ten-<lb/>
theils noch aus Bosheit zu ihm &#x017F;agte. &#x2014;<lb/>
Er mußte &#x017F;ieben Wochen nach der Krank-<lb/>
heit noch am Stabe gehen, und &#x017F;ah um<lb/>
zehn Jahr a&#x0364;lter aus.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Je-</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315/0333] ins Grab gelegt haͤtte; aber er wollte auch da er am aͤußerſten war, vom Tod nichts hoͤren, ſagte des Tags ſeine zwanzig und dreyßigmal, auch wenn ihn kein Menſch fragte, es fehle im nur im Kopf und in den Gliedern, um's Herz ſey er ſo geſund als ein Reynegli. — (*) Er zwang ſich, da er weder ſtehen noch gehen konnte, alle Tage aus dem Beth, ließ alle Tag, wenn er auch faſt nicht reden konnte, dieſen oder jenen zu ſich kommen, um etwas zu meiſtern oder zanken zu koͤnnen. Jedermann gab ihm natuͤrlich waͤhrend der Krankheit vor Augen und hinterm Tiſch gu- te Wort; aber jedermann ſuchte auch wie- der ſo geſchwind moͤglich von ihm wegzukom- men. Und die Forcht vor ihm minderte im ganzen Dorf; es wußte es ein jeder, daß es ihn aufbringe, wenn man ihm ſagte, er habe ſo ſtark abgenommen, oder er ſehe noch ſo uͤbel aus, und doch gieng faſt kein Tag vor- uͤber, daß das nicht jemand, und meiſten- theils noch aus Bosheit zu ihm ſagte. — Er mußte ſieben Wochen nach der Krank- heit noch am Stabe gehen, und ſah um zehn Jahr aͤlter aus. Je- (*) Reynegli, ein kleiner Fiſch, der ein ſehr ſtar- kes Leben haben ſoll.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard02_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard02_1783/333
Zitationshilfe: Pestalozzi, Johann Heinrich: Lienhard und Gertrud. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1783, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard02_1783/333>, abgerufen am 22.11.2024.