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Pestalozzi, Johann Heinrich: Lienhard und Gertrud. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1783.

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Als sie einst die Sterbende so sanft um-
kehrte, sagte diese: "Die Hande des Gott-
losen ist überall hart; und ohne dein Herz,
Frau, könntest du mich gewiß nicht umkeh-
ren, daß es mir so wenig wehe thäte."

Bald darauf: "Jch spühre auch hieran,
was mir in meinem ganzen Leben gefehlt.

Als der Pfarrer mit dem Treufaug kam,
winkte er der Gertrud. Diese erschrak, als
sie den Doktor erblikte, und keines wünschte
dem andern einen guten Tag.

Auf der Zunge wars der Gertrud: Was
will izt dieser noch Unruhe machen?

Der Pfarrer las auf ihren Lippen, was
sie sagen wollte, und sagte, sie bey der Han-
de nehmend: "Wir wollen euch nicht Un-
ruhe machen."

"Es macht der Frauen gewiß Unruhe,
wenn er in diesem Augenblik, da sie die
Armen erwartet, kommt," erwiederte die
Gertrud hastig.

"Er will nur in der Kammer zusehen,
wenn die Armen kommen," erwiederte der
Pfarrer, und Gertrud führte ihn izt lieb-
reich dahin.

Jzt schlugs 8. Uhr, und die Armen wa-
ren da. Sie hatten einander vor dem Hau-
se gewartet, damit nicht eines nach dem an-

dern

Als ſie einſt die Sterbende ſo ſanft um-
kehrte, ſagte dieſe: „Die Hande des Gott-
loſen iſt uͤberall hart; und ohne dein Herz,
Frau, koͤnnteſt du mich gewiß nicht umkeh-
ren, daß es mir ſo wenig wehe thaͤte.“

Bald darauf: “Jch ſpuͤhre auch hieran,
was mir in meinem ganzen Leben gefehlt.

Als der Pfarrer mit dem Treufaug kam,
winkte er der Gertrud. Dieſe erſchrak, als
ſie den Doktor erblikte, und keines wuͤnſchte
dem andern einen guten Tag.

Auf der Zunge wars der Gertrud: Was
will izt dieſer noch Unruhe machen?

Der Pfarrer las auf ihren Lippen, was
ſie ſagen wollte, und ſagte, ſie bey der Han-
de nehmend: “Wir wollen euch nicht Un-
ruhe machen.“

„Es macht der Frauen gewiß Unruhe,
wenn er in dieſem Augenblik, da ſie die
Armen erwartet, kommt,“ erwiederte die
Gertrud haſtig.

„Er will nur in der Kammer zuſehen,
wenn die Armen kommen,“ erwiederte der
Pfarrer, und Gertrud fuͤhrte ihn izt lieb-
reich dahin.

Jzt ſchlugs 8. Uhr, und die Armen wa-
ren da. Sie hatten einander vor dem Hau-
ſe gewartet, damit nicht eines nach dem an-

dern
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[222/0240] Als ſie einſt die Sterbende ſo ſanft um- kehrte, ſagte dieſe: „Die Hande des Gott- loſen iſt uͤberall hart; und ohne dein Herz, Frau, koͤnnteſt du mich gewiß nicht umkeh- ren, daß es mir ſo wenig wehe thaͤte.“ Bald darauf: “Jch ſpuͤhre auch hieran, was mir in meinem ganzen Leben gefehlt. Als der Pfarrer mit dem Treufaug kam, winkte er der Gertrud. Dieſe erſchrak, als ſie den Doktor erblikte, und keines wuͤnſchte dem andern einen guten Tag. Auf der Zunge wars der Gertrud: Was will izt dieſer noch Unruhe machen? Der Pfarrer las auf ihren Lippen, was ſie ſagen wollte, und ſagte, ſie bey der Han- de nehmend: “Wir wollen euch nicht Un- ruhe machen.“ „Es macht der Frauen gewiß Unruhe, wenn er in dieſem Augenblik, da ſie die Armen erwartet, kommt,“ erwiederte die Gertrud haſtig. „Er will nur in der Kammer zuſehen, wenn die Armen kommen,“ erwiederte der Pfarrer, und Gertrud fuͤhrte ihn izt lieb- reich dahin. Jzt ſchlugs 8. Uhr, und die Armen wa- ren da. Sie hatten einander vor dem Hau- ſe gewartet, damit nicht eines nach dem an- dern

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Zitationshilfe: Pestalozzi, Johann Heinrich: Lienhard und Gertrud. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1783, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard02_1783/240>, abgerufen am 06.05.2024.