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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

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Arner. Kann er denn das Wirthshaus nicht
meiden, wenn's ihm so gefährlich ist?

Gertrud. Gnädiger Herr! Bey der heissen
Arbeit dürstet man oft, und wenn denn immer
Saufgesellschaft vor seinen Augen auf jede Art mit
Freundlichkeit und mit Spotten, mit Weinkäufen
und mit Wetten ihn zulocken wird; ach Gott!
ach Gott! wie wird er's aushalten können. Und
wenn er denn nur ein wenig wieder Neues schuldig
wird: so ist er wieder angebunden. Gnädiger
Herr! Wenn Sie doch wüßten, wie ein einziger
Abend in solchen Häusern arme Leute ins Joch und
in Schlingen bringen kann, wo es fast unmöglich
ist, sich wieder heraus zu wickeln.

Arner. Ich weiß es, Gertrud -- und ich bin
entrüstet über das, was du mir gestern sagtest;
da vor deinen Augen und vor allem Volk will ich
dir zeigen, daß ich arme Leute nicht will drücken
und drängen lassen.

Sogleich wandte er sich gegen dem Vogt, und
sagte ihm mit einer Stimme voll Ernst und mit
einem Blicke, der durch Mark und Beine drang;

Vogt! ist's wahr, daß die armen Leute in dei-
nem Hause gedrängt, verführt, und vervortheilt
werden?

Betäubt und blaß, wie der Tod, antwortete
der Vogt; In meinem Leben, Gnädiger Herr!
ist mir nie so etwas begegnet; und so lang ich

lebe

Arner. Kann er denn das Wirthshaus nicht
meiden, wenn’s ihm ſo gefaͤhrlich iſt?

Gertrud. Gnaͤdiger Herr! Bey der heiſſen
Arbeit duͤrſtet man oft, und wenn denn immer
Saufgeſellſchaft vor ſeinen Augen auf jede Art mit
Freundlichkeit und mit Spotten, mit Weinkaͤufen
und mit Wetten ihn zulocken wird; ach Gott!
ach Gott! wie wird er’s aushalten koͤnnen. Und
wenn er denn nur ein wenig wieder Neues ſchuldig
wird: ſo iſt er wieder angebunden. Gnaͤdiger
Herr! Wenn Sie doch wuͤßten, wie ein einziger
Abend in ſolchen Haͤuſern arme Leute ins Joch und
in Schlingen bringen kann, wo es faſt unmoͤglich
iſt, ſich wieder heraus zu wickeln.

Arner. Ich weiß es, Gertrud — und ich bin
entruͤſtet uͤber das, was du mir geſtern ſagteſt;
da vor deinen Augen und vor allem Volk will ich
dir zeigen, daß ich arme Leute nicht will druͤcken
und draͤngen laſſen.

Sogleich wandte er ſich gegen dem Vogt, und
ſagte ihm mit einer Stimme voll Ernſt und mit
einem Blicke, der durch Mark und Beine drang;

Vogt! iſt’s wahr, daß die armen Leute in dei-
nem Hauſe gedraͤngt, verfuͤhrt, und vervortheilt
werden?

Betaͤubt und blaß, wie der Tod, antwortete
der Vogt; In meinem Leben, Gnaͤdiger Herr!
iſt mir nie ſo etwas begegnet; und ſo lang ich

lebe
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[30/0053] Arner. Kann er denn das Wirthshaus nicht meiden, wenn’s ihm ſo gefaͤhrlich iſt? Gertrud. Gnaͤdiger Herr! Bey der heiſſen Arbeit duͤrſtet man oft, und wenn denn immer Saufgeſellſchaft vor ſeinen Augen auf jede Art mit Freundlichkeit und mit Spotten, mit Weinkaͤufen und mit Wetten ihn zulocken wird; ach Gott! ach Gott! wie wird er’s aushalten koͤnnen. Und wenn er denn nur ein wenig wieder Neues ſchuldig wird: ſo iſt er wieder angebunden. Gnaͤdiger Herr! Wenn Sie doch wuͤßten, wie ein einziger Abend in ſolchen Haͤuſern arme Leute ins Joch und in Schlingen bringen kann, wo es faſt unmoͤglich iſt, ſich wieder heraus zu wickeln. Arner. Ich weiß es, Gertrud — und ich bin entruͤſtet uͤber das, was du mir geſtern ſagteſt; da vor deinen Augen und vor allem Volk will ich dir zeigen, daß ich arme Leute nicht will druͤcken und draͤngen laſſen. Sogleich wandte er ſich gegen dem Vogt, und ſagte ihm mit einer Stimme voll Ernſt und mit einem Blicke, der durch Mark und Beine drang; Vogt! iſt’s wahr, daß die armen Leute in dei- nem Hauſe gedraͤngt, verfuͤhrt, und vervortheilt werden? Betaͤubt und blaß, wie der Tod, antwortete der Vogt; In meinem Leben, Gnaͤdiger Herr! iſt mir nie ſo etwas begegnet; und ſo lang ich lebe

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/53>, abgerufen am 27.11.2024.