Mutter. Damit du nicht meynst, man müsse erst, wenn man den Bauch voll hat, und nichts mehr mag, an die Armen denken.
Niclas. Ist's darum, Mutter?
Mutter. Aber giebst du es ihm jezt doch ganz?
Niclas. Ja, Mutter! gewiß, gewiß. Ich weiß, er hungert entfetzlich -- und wir essen um sechs Uhr zu Nacht.
Mutter. Und, Niclas! ich denke, er bekom- me dann auch nichts.
Niclas. Ja, weiß Gott, Mutter! er bekömmt gewiß nichts zu Nacht.
Mutter. Ja, das Elend der Armen ist groß, und man muß grausam und hart seyn, wenn man nicht gern, was man kann, an sich selbst und an seinem eignen Maul erspart, ihnen ihre grosse Noth zu erleichtern.
Thränen stehn dem Niclas in den Augen. Die Mutter frägt sodann auch noch die andern Kinder: Lise! giebst du deines auch ganz weg?
Lise. Ja gewiß, Mutter!
Mutter. Und du, Enne! du auch?
Enne. Ja freylich, Mutter!
Mutter. Und du auch, Jonas?
Jonas. Das denk ich, Mutter!
Mutter. Nun das ist braf, Kinder! Aber wie wollt ihr es jezt auch anstellen? -- Es hat alles so seine Ordnung; und wenn man's noch so gut meynt,
so
Mutter. Damit du nicht meynſt, man muͤſſe erſt, wenn man den Bauch voll hat, und nichts mehr mag, an die Armen denken.
Niclas. Iſt’s darum, Mutter?
Mutter. Aber giebſt du es ihm jezt doch ganz?
Niclas. Ja, Mutter! gewiß, gewiß. Ich weiß, er hungert entfetzlich — und wir eſſen um ſechs Uhr zu Nacht.
Mutter. Und, Niclas! ich denke, er bekom- me dann auch nichts.
Niclas. Ja, weiß Gott, Mutter! er bekoͤmmt gewiß nichts zu Nacht.
Mutter. Ja, das Elend der Armen iſt groß, und man muß grauſam und hart ſeyn, wenn man nicht gern, was man kann, an ſich ſelbſt und an ſeinem eignen Maul erſpart, ihnen ihre groſſe Noth zu erleichtern.
Thraͤnen ſtehn dem Niclas in den Augen. Die Mutter fraͤgt ſodann auch noch die andern Kinder: Liſe! giebſt du deines auch ganz weg?
Liſe. Ja gewiß, Mutter!
Mutter. Und du, Enne! du auch?
Enne. Ja freylich, Mutter!
Mutter. Und du auch, Jonas?
Jonas. Das denk ich, Mutter!
Mutter. Nun das iſt braf, Kinder! Aber wie wollt ihr es jezt auch anſtellen? — Es hat alles ſo ſeine Ordnung; und wenn man’s noch ſo gut meynt,
ſo
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Mutter. Damit du nicht meynſt, man muͤſſe
erſt, wenn man den Bauch voll hat, und nichts
mehr mag, an die Armen denken.
Niclas. Iſt’s darum, Mutter?
Mutter. Aber giebſt du es ihm jezt doch ganz?
Niclas. Ja, Mutter! gewiß, gewiß. Ich
weiß, er hungert entfetzlich — und wir eſſen um
ſechs Uhr zu Nacht.
Mutter. Und, Niclas! ich denke, er bekom-
me dann auch nichts.
Niclas. Ja, weiß Gott, Mutter! er bekoͤmmt
gewiß nichts zu Nacht.
Mutter. Ja, das Elend der Armen iſt groß,
und man muß grauſam und hart ſeyn, wenn man
nicht gern, was man kann, an ſich ſelbſt und an
ſeinem eignen Maul erſpart, ihnen ihre groſſe Noth
zu erleichtern.
Thraͤnen ſtehn dem Niclas in den Augen. Die
Mutter fraͤgt ſodann auch noch die andern Kinder:
Liſe! giebſt du deines auch ganz weg?
Liſe. Ja gewiß, Mutter!
Mutter. Und du, Enne! du auch?
Enne. Ja freylich, Mutter!
Mutter. Und du auch, Jonas?
Jonas. Das denk ich, Mutter!
Mutter. Nun das iſt braf, Kinder! Aber wie
wollt ihr es jezt auch anſtellen? — Es hat alles ſo
ſeine Ordnung; und wenn man’s noch ſo gut meynt,
ſo
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/265>, abgerufen am 01.07.2024.
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