vergaß, was er gelesen -- suchte wieder, was er eben geschrieben hatte -- legte dann das Buch wieder in den Kasten -- gieng die Stube hinauf und hin- unter -- und dachte und redete immer mit sich sel- ber vom Markstein ganz ohne Schloßzeichen und Numero. Sonst ist kein einziger Markstein ohne Zeichen. Was mir in Sinn kömmt: Ein alter Ar- ner soll die obrigkeitliche Waldung so hart beschnit- ten haben; wenn es auch hier wäre. Bey Gott! es ist hier! es ist die unnatürlichste Krümmung in die obrigkeitlichen Grenzen hinein; bey zwo Stunden geht sie sonst in geräderer Linie als hier; und der Stein hat kein Zeichen und die Scheidung keinen Graben.
Wenn die Waldung der Obrigkeit gehörte, ich thäte dann nicht Unrecht, ich wäre treu am Landes- herrn. Aber wenn ich mich irrte -- Nein, ich versetze den Stein nicht. Ich müßte ihn umgraben, in der finstern Nacht müßte ich ihn einen starken Stein- wurf weit auf der Ebne fortrücken bis an den Fel- sen, und er ist schwer. Er läßt sich nicht versenken, wie eine Brunnquell. Am Tage würde man jeden Karststreich hören, so nahe ist er an der Landstrasse; und zu Nacht -- ich darf nicht. Ich würde vor je- dem Geräusch erschrecken. Wenn ein Dachs daher schliche, oder ein Reh aufspränge, es würde mir ohn- mächtig bey der Arbeit werden. Und wer weiß, ob nicht im Ernst ein Gespenst mich über der Arbeit ergreifen könnte. Es ist wahrlich unsicher des Nachts
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vergaß, was er geleſen — ſuchte wieder, was er eben geſchrieben hatte — legte dann das Buch wieder in den Kaſten — gieng die Stube hinauf und hin- unter — und dachte und redete immer mit ſich ſel- ber vom Markſtein ganz ohne Schloßzeichen und Numero. Sonſt iſt kein einziger Markſtein ohne Zeichen. Was mir in Sinn koͤmmt: Ein alter Ar- ner ſoll die obrigkeitliche Waldung ſo hart beſchnit- ten haben; wenn es auch hier waͤre. Bey Gott! es iſt hier! es iſt die unnatuͤrlichſte Kruͤmmung in die obrigkeitlichen Grenzen hinein; bey zwo Stunden geht ſie ſonſt in geraͤderer Linie als hier; und der Stein hat kein Zeichen und die Scheidung keinen Graben.
Wenn die Waldung der Obrigkeit gehoͤrte, ich thaͤte dann nicht Unrecht, ich waͤre treu am Landes- herrn. Aber wenn ich mich irrte — Nein, ich verſetze den Stein nicht. Ich muͤßte ihn umgraben, in der finſtern Nacht muͤßte ich ihn einen ſtarken Stein- wurf weit auf der Ebne fortruͤcken bis an den Fel- ſen, und er iſt ſchwer. Er laͤßt ſich nicht verſenken, wie eine Brunnquell. Am Tage wuͤrde man jeden Karſtſtreich hoͤren, ſo nahe iſt er an der Landſtraſſe; und zu Nacht — ich darf nicht. Ich wuͤrde vor je- dem Geraͤuſch erſchrecken. Wenn ein Dachs daher ſchliche, oder ein Reh aufſpraͤnge, es wuͤrde mir ohn- maͤchtig bey der Arbeit werden. Und wer weiß, ob nicht im Ernſt ein Geſpenſt mich uͤber der Arbeit ergreifen koͤnnte. Es iſt wahrlich unſicher des Nachts
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vergaß, was er geleſen — ſuchte wieder, was er eben
geſchrieben hatte — legte dann das Buch wieder
in den Kaſten — gieng die Stube hinauf und hin-
unter — und dachte und redete immer mit ſich ſel-
ber vom Markſtein ganz ohne Schloßzeichen und
Numero. Sonſt iſt kein einziger Markſtein ohne
Zeichen. Was mir in Sinn koͤmmt: Ein alter Ar-
ner ſoll die obrigkeitliche Waldung ſo hart beſchnit-
ten haben; wenn es auch hier waͤre. Bey Gott! es
iſt hier! es iſt die unnatuͤrlichſte Kruͤmmung in die
obrigkeitlichen Grenzen hinein; bey zwo Stunden geht
ſie ſonſt in geraͤderer Linie als hier; und der Stein
hat kein Zeichen und die Scheidung keinen Graben.
Wenn die Waldung der Obrigkeit gehoͤrte, ich
thaͤte dann nicht Unrecht, ich waͤre treu am Landes-
herrn. Aber wenn ich mich irrte — Nein, ich verſetze
den Stein nicht. Ich muͤßte ihn umgraben, in
der finſtern Nacht muͤßte ich ihn einen ſtarken Stein-
wurf weit auf der Ebne fortruͤcken bis an den Fel-
ſen, und er iſt ſchwer. Er laͤßt ſich nicht verſenken,
wie eine Brunnquell. Am Tage wuͤrde man jeden
Karſtſtreich hoͤren, ſo nahe iſt er an der Landſtraſſe;
und zu Nacht — ich darf nicht. Ich wuͤrde vor je-
dem Geraͤuſch erſchrecken. Wenn ein Dachs daher
ſchliche, oder ein Reh aufſpraͤnge, es wuͤrde mir ohn-
maͤchtig bey der Arbeit werden. Und wer weiß, ob
nicht im Ernſt ein Geſpenſt mich uͤber der Arbeit
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/254>, abgerufen am 23.11.2024.
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