Lienhard. Ja, und das recht bald. Er war gar liebreich, und sagte: Es ist ganz natürlich, daß ein Mann, der stark arbeitet, gern ein Glas Wein trinkt. Es ist ihm auch wohl zu gönnen; aber das ist ein Unglück, wenn einer, anstatt sich mit einem Glas Wein zu erquicken, beym Wein ein Narr wird, und nicht mehr an Weib und Kind denkt, und an seine alten Tage: Das ist ein Unglück, Lienhard!
Frau! Es gieng mir ein Stich ins Herz, als er das sagte. Doch faßte ich mich und antwor- tete:
Ich wäre in so unglückliche Umstände verwickelt gewesen, daß ich mir in Gottes Namen nicht mehr zu helfen gewußt hätte; Und ich hätte, weiß Gott, in der Zeit kein Glas Wein mit einem freudigen Herzen getrunken.
Gertrud. Hast du doch das herausbringen kön- nen?
Lienhard. Wenn er nicht so liebreich gewe- sen wäre, ich hätt' es gewiß nicht gekonnt.
Gertrud. Was sagte er noch weiter?
Lienhard. Es sey ein Unglück, daß die mei- sten Armen in ihrer Noth mit Leuten anbinden, die sie fliehen sollten, wie die Pest. Ich mußte einmal jezt seufzen. Ich glaube, er merkte es, denn er fuhr wie mitleidig fort:
Wenn man es den guten Leuten nur auch bey- bringen könnte, ehe sie es mit ihrem Schaden ler-
nen.
Lienhard. Ja, und das recht bald. Er war gar liebreich, und ſagte: Es iſt ganz natuͤrlich, daß ein Mann, der ſtark arbeitet, gern ein Glas Wein trinkt. Es iſt ihm auch wohl zu goͤnnen; aber das iſt ein Ungluͤck, wenn einer, anſtatt ſich mit einem Glas Wein zu erquicken, beym Wein ein Narr wird, und nicht mehr an Weib und Kind denkt, und an ſeine alten Tage: Das iſt ein Ungluͤck, Lienhard!
Frau! Es gieng mir ein Stich ins Herz, als er das ſagte. Doch faßte ich mich und antwor- tete:
Ich waͤre in ſo ungluͤckliche Umſtaͤnde verwickelt geweſen, daß ich mir in Gottes Namen nicht mehr zu helfen gewußt haͤtte; Und ich haͤtte, weiß Gott, in der Zeit kein Glas Wein mit einem freudigen Herzen getrunken.
Gertrud. Haſt du doch das herausbringen koͤn- nen?
Lienhard. Wenn er nicht ſo liebreich gewe- ſen waͤre, ich haͤtt’ es gewiß nicht gekonnt.
Gertrud. Was ſagte er noch weiter?
Lienhard. Es ſey ein Ungluͤck, daß die mei- ſten Armen in ihrer Noth mit Leuten anbinden, die ſie fliehen ſollten, wie die Peſt. Ich mußte einmal jezt ſeufzen. Ich glaube, er merkte es, denn er fuhr wie mitleidig fort:
Wenn man es den guten Leuten nur auch bey- bringen koͤnnte, ehe ſie es mit ihrem Schaden ler-
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Lienhard. Ja, und das recht bald. Er war
gar liebreich, und ſagte: Es iſt ganz natuͤrlich, daß
ein Mann, der ſtark arbeitet, gern ein Glas Wein
trinkt. Es iſt ihm auch wohl zu goͤnnen; aber das
iſt ein Ungluͤck, wenn einer, anſtatt ſich mit einem
Glas Wein zu erquicken, beym Wein ein Narr wird,
und nicht mehr an Weib und Kind denkt, und an
ſeine alten Tage: Das iſt ein Ungluͤck, Lienhard!
Frau! Es gieng mir ein Stich ins Herz, als
er das ſagte. Doch faßte ich mich und antwor-
tete:
Ich waͤre in ſo ungluͤckliche Umſtaͤnde verwickelt
geweſen, daß ich mir in Gottes Namen nicht mehr
zu helfen gewußt haͤtte; Und ich haͤtte, weiß Gott,
in der Zeit kein Glas Wein mit einem freudigen
Herzen getrunken.
Gertrud. Haſt du doch das herausbringen koͤn-
nen?
Lienhard. Wenn er nicht ſo liebreich gewe-
ſen waͤre, ich haͤtt’ es gewiß nicht gekonnt.
Gertrud. Was ſagte er noch weiter?
Lienhard. Es ſey ein Ungluͤck, daß die mei-
ſten Armen in ihrer Noth mit Leuten anbinden,
die ſie fliehen ſollten, wie die Peſt. Ich mußte
einmal jezt ſeufzen. Ich glaube, er merkte es, denn
er fuhr wie mitleidig fort:
Wenn man es den guten Leuten nur auch bey-
bringen koͤnnte, ehe ſie es mit ihrem Schaden ler-
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/100>, abgerufen am 24.11.2024.
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