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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Beringsvölker.
vor den Russen die Kurilen und Kamtschatka besuchten Eisen
oder eiserne Geräthe nach dem Norden gebracht und dass letztere
sich dann durch den Küstenverkehr nach Amerika weiter ver-
breitet haben. Mit Ausnahme der Koluschen, deren eheliche
Sittenstrenge v. Langsdorff 1) uns rühmt, begegnen wir bei sämmt-
lichen Beringsvölkern selbst bei den Eskimo erotischen Verirrungen,
Knabenliebe und Frauenlastern, Gleichgiltigkeit gegen eheliche
Treue, Bewirthung des Gastfreundes durch Preisgeben von Frauen
und Schwestern, zugleich mit einem vorzeitigen Heirathsalter 2).
Wenn Georg Steller berechtigt war die Anlage zu solchen Aus-
schweifungen der vorherrschenden Fischnahrung zuzuschreiben, so
würde diese Uebereinstimmung zwischen den Beringsvölkern eben-
falls nur dem Wohnort entsprungen sein. Anders verhält es
sich schon, dass wir bei ihnen allen mehr oder weniger grossen
Kunstsinn antreffen, der sich in Schnitzereien äussert. Bei den
Koluschen führt jedes grosse Fahrzeug den Namen von irgend
einem Gegenstand, meist einem Thier, dessen hölzernes Bild den
Schnabel schmückt. Besonders gelungne Verzierungen dieser Art
werden sehr hoch im Werth gehalten und mit einem Sklaven be-
zahlt 3). Die Adeligen unter den Haidah der Charlotte Inseln
wiederum tragen kupferne Schilder auf welchen ihr Wappen ein-
gegraben ist 4). Dazu gesellt sich bei allen noch die Vorliebe
zu dramatischen Tänzen und theatralischen Vorstellungen die
mit Masken aufgeführt werden, wie diess von den Thlinkiten,
ja sogar einigen Stämmen in Oregon 5) und von allen Bewohnern
der Vancouverinsel gilt 6). Die bürgerlichen Zustände bei den
Thlinkiten und Vancouverstämmen hatten sich ungleich höher ent-
wickelt als jenseits der Felsengebirge. Die Wohnsitze waren wie
es der Fischfang vorschrieb feste, die Häuser bisweilen casernen-
artig. Die Häuptlinge besassen grosse Gewalt, eine Scheidung

1) Reise um die Welt. Frankf. 1812. S. 113.
2) S. oben S. 424. not. 5.
3) Lütke, Voyage autour du monde, chap. V. Paris 1835. tom. I,
p. 212. W. Dall, Alaska. Boston 1870. p. 413. p. 417.
4) R. Brown, l. c.
5) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 335.
6) Whymper, Alaska. S. 58.

Die Beringsvölker.
vor den Russen die Kurilen und Kamtschatka besuchten Eisen
oder eiserne Geräthe nach dem Norden gebracht und dass letztere
sich dann durch den Küstenverkehr nach Amerika weiter ver-
breitet haben. Mit Ausnahme der Koluschen, deren eheliche
Sittenstrenge v. Langsdorff 1) uns rühmt, begegnen wir bei sämmt-
lichen Beringsvölkern selbst bei den Eskimo erotischen Verirrungen,
Knabenliebe und Frauenlastern, Gleichgiltigkeit gegen eheliche
Treue, Bewirthung des Gastfreundes durch Preisgeben von Frauen
und Schwestern, zugleich mit einem vorzeitigen Heirathsalter 2).
Wenn Georg Steller berechtigt war die Anlage zu solchen Aus-
schweifungen der vorherrschenden Fischnahrung zuzuschreiben, so
würde diese Uebereinstimmung zwischen den Beringsvölkern eben-
falls nur dem Wohnort entsprungen sein. Anders verhält es
sich schon, dass wir bei ihnen allen mehr oder weniger grossen
Kunstsinn antreffen, der sich in Schnitzereien äussert. Bei den
Koluschen führt jedes grosse Fahrzeug den Namen von irgend
einem Gegenstand, meist einem Thier, dessen hölzernes Bild den
Schnabel schmückt. Besonders gelungne Verzierungen dieser Art
werden sehr hoch im Werth gehalten und mit einem Sklaven be-
zahlt 3). Die Adeligen unter den Haidah der Charlotte Inseln
wiederum tragen kupferne Schilder auf welchen ihr Wappen ein-
gegraben ist 4). Dazu gesellt sich bei allen noch die Vorliebe
zu dramatischen Tänzen und theatralischen Vorstellungen die
mit Masken aufgeführt werden, wie diess von den Thlinkiten,
ja sogar einigen Stämmen in Oregon 5) und von allen Bewohnern
der Vancouverinsel gilt 6). Die bürgerlichen Zustände bei den
Thlinkiten und Vancouverstämmen hatten sich ungleich höher ent-
wickelt als jenseits der Felsengebirge. Die Wohnsitze waren wie
es der Fischfang vorschrieb feste, die Häuser bisweilen casernen-
artig. Die Häuptlinge besassen grosse Gewalt, eine Scheidung

1) Reise um die Welt. Frankf. 1812. S. 113.
2) S. oben S. 424. not. 5.
3) Lütke, Voyage autour du monde, chap. V. Paris 1835. tom. I,
p. 212. W. Dall, Alaska. Boston 1870. p. 413. p. 417.
4) R. Brown, l. c.
5) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 335.
6) Whymper, Alaska. S. 58.
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[427/0445] Die Beringsvölker. vor den Russen die Kurilen und Kamtschatka besuchten Eisen oder eiserne Geräthe nach dem Norden gebracht und dass letztere sich dann durch den Küstenverkehr nach Amerika weiter ver- breitet haben. Mit Ausnahme der Koluschen, deren eheliche Sittenstrenge v. Langsdorff 1) uns rühmt, begegnen wir bei sämmt- lichen Beringsvölkern selbst bei den Eskimo erotischen Verirrungen, Knabenliebe und Frauenlastern, Gleichgiltigkeit gegen eheliche Treue, Bewirthung des Gastfreundes durch Preisgeben von Frauen und Schwestern, zugleich mit einem vorzeitigen Heirathsalter 2). Wenn Georg Steller berechtigt war die Anlage zu solchen Aus- schweifungen der vorherrschenden Fischnahrung zuzuschreiben, so würde diese Uebereinstimmung zwischen den Beringsvölkern eben- falls nur dem Wohnort entsprungen sein. Anders verhält es sich schon, dass wir bei ihnen allen mehr oder weniger grossen Kunstsinn antreffen, der sich in Schnitzereien äussert. Bei den Koluschen führt jedes grosse Fahrzeug den Namen von irgend einem Gegenstand, meist einem Thier, dessen hölzernes Bild den Schnabel schmückt. Besonders gelungne Verzierungen dieser Art werden sehr hoch im Werth gehalten und mit einem Sklaven be- zahlt 3). Die Adeligen unter den Haidah der Charlotte Inseln wiederum tragen kupferne Schilder auf welchen ihr Wappen ein- gegraben ist 4). Dazu gesellt sich bei allen noch die Vorliebe zu dramatischen Tänzen und theatralischen Vorstellungen die mit Masken aufgeführt werden, wie diess von den Thlinkiten, ja sogar einigen Stämmen in Oregon 5) und von allen Bewohnern der Vancouverinsel gilt 6). Die bürgerlichen Zustände bei den Thlinkiten und Vancouverstämmen hatten sich ungleich höher ent- wickelt als jenseits der Felsengebirge. Die Wohnsitze waren wie es der Fischfang vorschrieb feste, die Häuser bisweilen casernen- artig. Die Häuptlinge besassen grosse Gewalt, eine Scheidung 1) Reise um die Welt. Frankf. 1812. S. 113. 2) S. oben S. 424. not. 5. 3) Lütke, Voyage autour du monde, chap. V. Paris 1835. tom. I, p. 212. W. Dall, Alaska. Boston 1870. p. 413. p. 417. 4) R. Brown, l. c. 5) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 335. 6) Whymper, Alaska. S. 58.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/445>, abgerufen am 27.04.2024.