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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
haupten wollte, die Beweislast zu. Die gemeinsame Abkunft aller
dieser Sprachen steht nicht so fest, als etwa die des arischen
Sprachenkreises, und bedenklich erschien Einigen namentlich die Kluft
zwischen dem Mongolischen und den Mandschu-Sprachen 1). Andrer-
seits dürfen wir nicht übersehen, dass alle diese Völker keine alte
Literatur besitzen. Könnten wir die Sprachen in ihrer ehemaligen
Gestalt vergleichen, so würden wir leicht ins Klare kommen, ob
wir sie als ein Ganzes zusammenzufassen berechtigt waren oder
nicht.

Zu dem tungusischen Aste dieser Völkergruppe gehören zu-
nächst die Mandschu, welche seit 1644 als Eroberer dem chine-
sischen Reiche ein Herrscherhaus aufgedrängt haben. Den ge-
schwisterlichen Tungusenstämmen haben sie den Namen Orotschonen
gegeben, was soviel bedeutet wie Renthierhirten. Etliche Tungusen
nennen sich selbst Boje oder Menschen, andere wieder Donki oder
Leute. Lamuten heissen die tungusischen Bewohner an den
ochotskischen Gestaden, von lamu das Meer. Am weitesten von
allen Tungusen nach Westen, nämlich zwischen Jenissei und Tun-
guska, sind die Tschapogiren und am weitesten nördlich, nämlich
bis an die Chatangabucht des Eismeeres, andere Tungusenhorden
vorgedrungen. Verdienste um die Gesittung unseres Geschlechts
lassen sich diesen Völkern nicht nachweisen, doch ist es sehr wahr-
scheinlich, dass die Chinesen manches von den Tungusen gelernt
haben mögen, was wir ihrem Erfindungsgeiste jetzt zuschreiben.

Der zweite Ast der Nordasiaten sind die Mongolen. Bis-
weilen werden sie Tataren, oder wohl gar nach einem Wortspiel
Ludwigs des Heiligen Tartaren genannt. Diese Bezeichnung muss
aus der Völkerkunde gestrichen werden, da sie so oft missbraucht
und so vieldeutig geworden ist, dass wir immer erst aus Neben-
umständen schliessen, oft auch nur errathen müssen, ob wir unter
Tataren türkische oder mongolische Völkerschaften uns zu denken
haben. Auch der mongolische Name blieb im Sprachgebrauch
der Völkerkunde lange Zeit sehr schwankend, denn wir besitzen
ein Verzeichniss der Horden, die ursprünglich und die später

1) Whitney, Language. p. 315. vgl. dagegen W. Schott, in Ab-
handlungen der Berliner Akademie. 1869. S. 267. S. 285.
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Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
haupten wollte, die Beweislast zu. Die gemeinsame Abkunft aller
dieser Sprachen steht nicht so fest, als etwa die des arischen
Sprachenkreises, und bedenklich erschien Einigen namentlich die Kluft
zwischen dem Mongolischen und den Mandschu-Sprachen 1). Andrer-
seits dürfen wir nicht übersehen, dass alle diese Völker keine alte
Literatur besitzen. Könnten wir die Sprachen in ihrer ehemaligen
Gestalt vergleichen, so würden wir leicht ins Klare kommen, ob
wir sie als ein Ganzes zusammenzufassen berechtigt waren oder
nicht.

Zu dem tungusischen Aste dieser Völkergruppe gehören zu-
nächst die Mandschu, welche seit 1644 als Eroberer dem chine-
sischen Reiche ein Herrscherhaus aufgedrängt haben. Den ge-
schwisterlichen Tungusenstämmen haben sie den Namen Orotschonen
gegeben, was soviel bedeutet wie Renthierhirten. Etliche Tungusen
nennen sich selbst Boje oder Menschen, andere wieder Donki oder
Leute. Lamuten heissen die tungusischen Bewohner an den
ochotskischen Gestaden, von lamu das Meer. Am weitesten von
allen Tungusen nach Westen, nämlich zwischen Jenissei und Tun-
guska, sind die Tschapogiren und am weitesten nördlich, nämlich
bis an die Chatangabucht des Eismeeres, andere Tungusenhorden
vorgedrungen. Verdienste um die Gesittung unseres Geschlechts
lassen sich diesen Völkern nicht nachweisen, doch ist es sehr wahr-
scheinlich, dass die Chinesen manches von den Tungusen gelernt
haben mögen, was wir ihrem Erfindungsgeiste jetzt zuschreiben.

Der zweite Ast der Nordasiaten sind die Mongolen. Bis-
weilen werden sie Tataren, oder wohl gar nach einem Wortspiel
Ludwigs des Heiligen Tartaren genannt. Diese Bezeichnung muss
aus der Völkerkunde gestrichen werden, da sie so oft missbraucht
und so vieldeutig geworden ist, dass wir immer erst aus Neben-
umständen schliessen, oft auch nur errathen müssen, ob wir unter
Tataren türkische oder mongolische Völkerschaften uns zu denken
haben. Auch der mongolische Name blieb im Sprachgebrauch
der Völkerkunde lange Zeit sehr schwankend, denn wir besitzen
ein Verzeichniss der Horden, die ursprünglich und die später

1) Whitney, Language. p. 315. vgl. dagegen W. Schott, in Ab-
handlungen der Berliner Akademie. 1869. S. 267. S. 285.
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[403/0421] Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. haupten wollte, die Beweislast zu. Die gemeinsame Abkunft aller dieser Sprachen steht nicht so fest, als etwa die des arischen Sprachenkreises, und bedenklich erschien Einigen namentlich die Kluft zwischen dem Mongolischen und den Mandschu-Sprachen 1). Andrer- seits dürfen wir nicht übersehen, dass alle diese Völker keine alte Literatur besitzen. Könnten wir die Sprachen in ihrer ehemaligen Gestalt vergleichen, so würden wir leicht ins Klare kommen, ob wir sie als ein Ganzes zusammenzufassen berechtigt waren oder nicht. Zu dem tungusischen Aste dieser Völkergruppe gehören zu- nächst die Mandschu, welche seit 1644 als Eroberer dem chine- sischen Reiche ein Herrscherhaus aufgedrängt haben. Den ge- schwisterlichen Tungusenstämmen haben sie den Namen Orotschonen gegeben, was soviel bedeutet wie Renthierhirten. Etliche Tungusen nennen sich selbst Boje oder Menschen, andere wieder Donki oder Leute. Lamuten heissen die tungusischen Bewohner an den ochotskischen Gestaden, von lamu das Meer. Am weitesten von allen Tungusen nach Westen, nämlich zwischen Jenissei und Tun- guska, sind die Tschapogiren und am weitesten nördlich, nämlich bis an die Chatangabucht des Eismeeres, andere Tungusenhorden vorgedrungen. Verdienste um die Gesittung unseres Geschlechts lassen sich diesen Völkern nicht nachweisen, doch ist es sehr wahr- scheinlich, dass die Chinesen manches von den Tungusen gelernt haben mögen, was wir ihrem Erfindungsgeiste jetzt zuschreiben. Der zweite Ast der Nordasiaten sind die Mongolen. Bis- weilen werden sie Tataren, oder wohl gar nach einem Wortspiel Ludwigs des Heiligen Tartaren genannt. Diese Bezeichnung muss aus der Völkerkunde gestrichen werden, da sie so oft missbraucht und so vieldeutig geworden ist, dass wir immer erst aus Neben- umständen schliessen, oft auch nur errathen müssen, ob wir unter Tataren türkische oder mongolische Völkerschaften uns zu denken haben. Auch der mongolische Name blieb im Sprachgebrauch der Völkerkunde lange Zeit sehr schwankend, denn wir besitzen ein Verzeichniss der Horden, die ursprünglich und die später 1) Whitney, Language. p. 315. vgl. dagegen W. Schott, in Ab- handlungen der Berliner Akademie. 1869. S. 267. S. 285. 26*

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/421>, abgerufen am 28.04.2024.