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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
sagen sie "Finger zweier Hände", für Zwanzig "Finger und Zehen
an Händen und Füssen" 1). Uns selbst fehlt ein Ausdruck für
zehntausend, wie ihn die griechische Sprache, ein andrer für hun-
derttausend (Lak), oder für zehn Millionen (Kror), wie ihn die
indische Sprache besitzt, die reichste der Erde an Ausdrücken für
hohe Ziffern bis zu solchen mit 51 Stellen, weil diese bei den
Zahlenspielereien der Sankhjaphilosophen und der Buddhisten viel-
fach zur Anwendung gelangten. Das Wort Million war den
Völkern des classischen Alterthums fremd und der Ausdruck
Milliarde ist erst in unserm Jahrhundert in Umlauf gesetzt worden.

Ein Vergleich der Sprachen dürftig entwickelter Menschen-
stämme lässt uns die Erfahrung gewinnen, dass die Wahrnehmung
der Artenunterschiede um vieles früher eintrat, als die Erkenntniss
der übereinstimmenden Merkmale innerhalb der Gattung. Die
rohen Jägerstämme benennen den Biber, Wolf und Bär, sie haben
aber keinen Namen für Thier 2). Den Sprachen der Australier
fehlen Ausdrücke für Baum, Fisch und Vogel, wohl aber ist an
Bezeichnungen der einzelnen Arten kein Mangel 3). Das Gleiche
lässt sich von den sogenannten Rothhäuten Nordamerikas sagen,
denn in der Tschoctasprache gibt es wohl Bezeichnungen für die
Weiss-, Roth- und Schwarzeiche, aber keine für die Eichengattung.
Wenn wir Nahrungsmittel zu uns nehmen, sei es Suppe, Brod,
Fleisch, Gemüse oder Brei, bedienen wir uns stets des Wortes
essen, die Huronen aber wechselten den Ausdruck je nach der
Verschiedenheit des Genossenen 4). Die Eskimo wieder besitzen
Sonderausdrücke für das Fischen, je nach den angewendeten Ge-
räthen 5). Die Malayen unterscheiden roth, blau, grün, weiss, aber
es fehlt ihnen das Wort für Farbe. Die Tasmanier haben keine
Eigenschaftswörter, sondern statt hart sagen sie "steingleich", statt
rund "mondgleich", statt hoch "mit langen Beinen".

1) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 202.
2) Auch die griechische Sprache hat insofern kein Wort für Thier, als
zoon den Menschen mit einschliesst, weswegen sich das Lied "Mensch und
Thiere schliefen feste" (freilich kein beklagenswerther Uebelstand) nicht in
das Griechische übersetzen lässt. Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsycho-
logie. 1869. Bd. 6. S. 480.
3) Lubbock, Prehistoric Times. 2. ed. p. 437.
4) Charlevoix, Nouvelle France. Paris 1744 tom. III, p. 197.
5) Latham, Varieties of Man, p. 376.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
sagen sie „Finger zweier Hände“, für Zwanzig „Finger und Zehen
an Händen und Füssen“ 1). Uns selbst fehlt ein Ausdruck für
zehntausend, wie ihn die griechische Sprache, ein andrer für hun-
derttausend (Lak), oder für zehn Millionen (Kror), wie ihn die
indische Sprache besitzt, die reichste der Erde an Ausdrücken für
hohe Ziffern bis zu solchen mit 51 Stellen, weil diese bei den
Zahlenspielereien der Sankhjâphilosophen und der Buddhisten viel-
fach zur Anwendung gelangten. Das Wort Million war den
Völkern des classischen Alterthums fremd und der Ausdruck
Milliarde ist erst in unserm Jahrhundert in Umlauf gesetzt worden.

Ein Vergleich der Sprachen dürftig entwickelter Menschen-
stämme lässt uns die Erfahrung gewinnen, dass die Wahrnehmung
der Artenunterschiede um vieles früher eintrat, als die Erkenntniss
der übereinstimmenden Merkmale innerhalb der Gattung. Die
rohen Jägerstämme benennen den Biber, Wolf und Bär, sie haben
aber keinen Namen für Thier 2). Den Sprachen der Australier
fehlen Ausdrücke für Baum, Fisch und Vogel, wohl aber ist an
Bezeichnungen der einzelnen Arten kein Mangel 3). Das Gleiche
lässt sich von den sogenannten Rothhäuten Nordamerikas sagen,
denn in der Tschoctasprache gibt es wohl Bezeichnungen für die
Weiss-, Roth- und Schwarzeiche, aber keine für die Eichengattung.
Wenn wir Nahrungsmittel zu uns nehmen, sei es Suppe, Brod,
Fleisch, Gemüse oder Brei, bedienen wir uns stets des Wortes
essen, die Huronen aber wechselten den Ausdruck je nach der
Verschiedenheit des Genossenen 4). Die Eskimo wieder besitzen
Sonderausdrücke für das Fischen, je nach den angewendeten Ge-
räthen 5). Die Malayen unterscheiden roth, blau, grün, weiss, aber
es fehlt ihnen das Wort für Farbe. Die Tasmanier haben keine
Eigenschaftswörter, sondern statt hart sagen sie „steingleich“, statt
rund „mondgleich“, statt hoch „mit langen Beinen“.

1) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 202.
2) Auch die griechische Sprache hat insofern kein Wort für Thier, als
ζῶον den Menschen mit einschliesst, weswegen sich das Lied „Mensch und
Thiere schliefen feste“ (freilich kein beklagenswerther Uebelstand) nicht in
das Griechische übersetzen lässt. Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsycho-
logie. 1869. Bd. 6. S. 480.
3) Lubbock, Prehistoric Times. 2. ed. p. 437.
4) Charlevoix, Nouvelle France. Paris 1744 tom. III, p. 197.
5) Latham, Varieties of Man, p. 376.
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[116/0134] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. sagen sie „Finger zweier Hände“, für Zwanzig „Finger und Zehen an Händen und Füssen“ 1). Uns selbst fehlt ein Ausdruck für zehntausend, wie ihn die griechische Sprache, ein andrer für hun- derttausend (Lak), oder für zehn Millionen (Kror), wie ihn die indische Sprache besitzt, die reichste der Erde an Ausdrücken für hohe Ziffern bis zu solchen mit 51 Stellen, weil diese bei den Zahlenspielereien der Sankhjâphilosophen und der Buddhisten viel- fach zur Anwendung gelangten. Das Wort Million war den Völkern des classischen Alterthums fremd und der Ausdruck Milliarde ist erst in unserm Jahrhundert in Umlauf gesetzt worden. Ein Vergleich der Sprachen dürftig entwickelter Menschen- stämme lässt uns die Erfahrung gewinnen, dass die Wahrnehmung der Artenunterschiede um vieles früher eintrat, als die Erkenntniss der übereinstimmenden Merkmale innerhalb der Gattung. Die rohen Jägerstämme benennen den Biber, Wolf und Bär, sie haben aber keinen Namen für Thier 2). Den Sprachen der Australier fehlen Ausdrücke für Baum, Fisch und Vogel, wohl aber ist an Bezeichnungen der einzelnen Arten kein Mangel 3). Das Gleiche lässt sich von den sogenannten Rothhäuten Nordamerikas sagen, denn in der Tschoctasprache gibt es wohl Bezeichnungen für die Weiss-, Roth- und Schwarzeiche, aber keine für die Eichengattung. Wenn wir Nahrungsmittel zu uns nehmen, sei es Suppe, Brod, Fleisch, Gemüse oder Brei, bedienen wir uns stets des Wortes essen, die Huronen aber wechselten den Ausdruck je nach der Verschiedenheit des Genossenen 4). Die Eskimo wieder besitzen Sonderausdrücke für das Fischen, je nach den angewendeten Ge- räthen 5). Die Malayen unterscheiden roth, blau, grün, weiss, aber es fehlt ihnen das Wort für Farbe. Die Tasmanier haben keine Eigenschaftswörter, sondern statt hart sagen sie „steingleich“, statt rund „mondgleich“, statt hoch „mit langen Beinen“. 1) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 202. 2) Auch die griechische Sprache hat insofern kein Wort für Thier, als ζῶον den Menschen mit einschliesst, weswegen sich das Lied „Mensch und Thiere schliefen feste“ (freilich kein beklagenswerther Uebelstand) nicht in das Griechische übersetzen lässt. Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsycho- logie. 1869. Bd. 6. S. 480. 3) Lubbock, Prehistoric Times. 2. ed. p. 437. 4) Charlevoix, Nouvelle France. Paris 1744 tom. III, p. 197. 5) Latham, Varieties of Man, p. 376.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/134>, abgerufen am 03.05.2024.