Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Ueber den Reichthum der Sprache entscheidet immer nur das Bedürfniss nach Mittheilung und dieses müssen wir uns bei den Entwicklungsanfängen unsres Geschlechts sehr gering denken. Die Engländer rühmen sich eines Schatzes von 100,000 Wörtern, ihre Feldarbeiter aber sollen sich angeblich nur mit 300 begnügen. Nicht mehr will ein Geistlicher bei einem Tagelöhner seines Kirch- spiels auf einer friesischen Insel gezählt haben. Ein Mann von Durchschnittsbildung, so belehrt uns Kleinpaul 1), verfügt über 3--4000, ein grosser Redner über 10,000 verschiedne Wörter und in den Berliner Taubstummenanstalten kommen nicht weniger als 5000 Zeichen zur Anwendung. Dass mit dem Bedürfniss nach Ausdruck auch die Menge der Ausdrücke wachse, beweisen uns die Zahlwörter, die gewöhnlich nicht über zwanzig bei rohen Menschen- stämmen hinausreichen. Alex. v. Humboldt war der erste, der das Entstehen von Zahlengruppen zu 5, 10 und 20 Einheiten auf die Anzahl der Glieder an Händen und Füssen zurückführte, so dass wir mit sechsfingrigen Händen zum Duodecimalsystem gelangt wären 2). Indessen gibt es doch Ausnahmen namentlich bei einem australischen Stamme, der nur zwei Zahlworte verwendet, so dass gesagt wird für 1 netat; für 2 naes; für 3 naes-netat; für 4 naes- naes; für 5 naes-naes-netat; für 6 naes-naes-naes3). Andere australische Mundarten besitzen einen unabhängigen Ausdruck für drei und in einem der dortigen Sprachgebiete reichen die Zahl- wörter bis 15 oder 20 4). Orton behauptet, dass die Zaparos in Ecuador am Napostrome nur bis drei zählen können und höhere Mehrheiten nur durch Aufheben der Finger ausdrücken 5), und das nämliche versichert der Prinz zu Neuwied6) von den Bo- tocuden. Nach näheren Untersuchungen möchten sich aber bei den meisten der genannten Völkerstämme günstigere Thatsachen ermitteln lassen, denn auch den Abiponen sind Zahlwörter über drei abgestritten worden. In Wahrheit aber sagen sie statt vier "Straussenzehen", für Fünf gebrauchen sie zwei Ausdrücke, für zehn
1) Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1869. Bd. 6. S. 354.
2) A. v. Humboldt's Leben, herausgegeben von Carl Bruhns. Bd. 3. S. 9.
3)Latham, Opuscula. p. 228.
4)Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 241.
5)James Orton, The Andes and the Amazon. London 1870. p. 170.
6) Reise nach Brasilien. Frankfurt 1825. Bd. 2. S. 41.
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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Ueber den Reichthum der Sprache entscheidet immer nur das Bedürfniss nach Mittheilung und dieses müssen wir uns bei den Entwicklungsanfängen unsres Geschlechts sehr gering denken. Die Engländer rühmen sich eines Schatzes von 100,000 Wörtern, ihre Feldarbeiter aber sollen sich angeblich nur mit 300 begnügen. Nicht mehr will ein Geistlicher bei einem Tagelöhner seines Kirch- spiels auf einer friesischen Insel gezählt haben. Ein Mann von Durchschnittsbildung, so belehrt uns Kleinpaul 1), verfügt über 3—4000, ein grosser Redner über 10,000 verschiedne Wörter und in den Berliner Taubstummenanstalten kommen nicht weniger als 5000 Zeichen zur Anwendung. Dass mit dem Bedürfniss nach Ausdruck auch die Menge der Ausdrücke wachse, beweisen uns die Zahlwörter, die gewöhnlich nicht über zwanzig bei rohen Menschen- stämmen hinausreichen. Alex. v. Humboldt war der erste, der das Entstehen von Zahlengruppen zu 5, 10 und 20 Einheiten auf die Anzahl der Glieder an Händen und Füssen zurückführte, so dass wir mit sechsfingrigen Händen zum Duodecimalsystem gelangt wären 2). Indessen gibt es doch Ausnahmen namentlich bei einem australischen Stamme, der nur zwei Zahlworte verwendet, so dass gesagt wird für 1 netat; für 2 naes; für 3 naes-netat; für 4 naes- naes; für 5 naes-naes-netat; für 6 naes-naes-naes3). Andere australische Mundarten besitzen einen unabhängigen Ausdruck für drei und in einem der dortigen Sprachgebiete reichen die Zahl- wörter bis 15 oder 20 4). Orton behauptet, dass die Zaparos in Ecuador am Napóstrome nur bis drei zählen können und höhere Mehrheiten nur durch Aufheben der Finger ausdrücken 5), und das nämliche versichert der Prinz zu Neuwied6) von den Bo- tocuden. Nach näheren Untersuchungen möchten sich aber bei den meisten der genannten Völkerstämme günstigere Thatsachen ermitteln lassen, denn auch den Abiponen sind Zahlwörter über drei abgestritten worden. In Wahrheit aber sagen sie statt vier „Straussenzehen“, für Fünf gebrauchen sie zwei Ausdrücke, für zehn
1) Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1869. Bd. 6. S. 354.
2) A. v. Humboldt’s Leben, herausgegeben von Carl Bruhns. Bd. 3. S. 9.
3)Latham, Opuscula. p. 228.
4)Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 241.
5)James Orton, The Andes and the Amazon. London 1870. p. 170.
6) Reise nach Brasilien. Frankfurt 1825. Bd. 2. S. 41.
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Entwicklungsanfängen unsres Geschlechts sehr gering denken. Die
Engländer rühmen sich eines Schatzes von 100,000 Wörtern, ihre
Feldarbeiter aber sollen sich angeblich nur mit 300 begnügen.
Nicht mehr will ein Geistlicher bei einem Tagelöhner seines Kirch-
spiels auf einer friesischen Insel gezählt haben. Ein Mann von
Durchschnittsbildung, so belehrt uns Kleinpaul 1), verfügt über
3—4000, ein grosser Redner über 10,000 verschiedne Wörter und
in den Berliner Taubstummenanstalten kommen nicht weniger als
5000 Zeichen zur Anwendung. Dass mit dem Bedürfniss nach
Ausdruck auch die Menge der Ausdrücke wachse, beweisen uns die
Zahlwörter, die gewöhnlich nicht über zwanzig bei rohen Menschen-
stämmen hinausreichen. Alex. v. Humboldt war der erste, der das
Entstehen von Zahlengruppen zu 5, 10 und 20 Einheiten auf die
Anzahl der Glieder an Händen und Füssen zurückführte, so dass
wir mit sechsfingrigen Händen zum Duodecimalsystem gelangt
wären 2). Indessen gibt es doch Ausnahmen namentlich bei einem
australischen Stamme, der nur zwei Zahlworte verwendet, so dass
gesagt wird für 1 netat; für 2 naes; für 3 naes-netat; für 4 naes-
naes; für 5 naes-naes-netat; für 6 naes-naes-naes 3). Andere
australische Mundarten besitzen einen unabhängigen Ausdruck für
drei und in einem der dortigen Sprachgebiete reichen die Zahl-
wörter bis 15 oder 20 4). Orton behauptet, dass die Zaparos in
Ecuador am Napóstrome nur bis drei zählen können und höhere
Mehrheiten nur durch Aufheben der Finger ausdrücken 5), und
das nämliche versichert der Prinz zu Neuwied 6) von den Bo-
tocuden. Nach näheren Untersuchungen möchten sich aber bei
den meisten der genannten Völkerstämme günstigere Thatsachen
ermitteln lassen, denn auch den Abiponen sind Zahlwörter über
drei abgestritten worden. In Wahrheit aber sagen sie statt vier
„Straussenzehen“, für Fünf gebrauchen sie zwei Ausdrücke, für zehn
1) Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1869.
Bd. 6. S. 354.
2) A. v. Humboldt’s Leben, herausgegeben von Carl Bruhns. Bd. 3. S. 9.
3) Latham, Opuscula. p. 228.
4) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 241.
5) James Orton, The Andes and the Amazon. London 1870. p. 170.
6) Reise nach Brasilien. Frankfurt 1825. Bd. 2. S. 41.
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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/133>, abgerufen am 22.12.2024.
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