Ort und Stelle selber kennen lernte auf meiner Reise. Nach den Französinnen stell' ich sogleich meine Schweizer." -- Julienne versetzte: "Sie sagen mir Räthsel vor." Sie lösete ihr sie, und Linda, die kurz nach ihr in Frankreich ge¬ wesen, bestätigte es, daß da unter den Wei¬ bern von gewissem höhern Ton, zu denen kein Crebillon je hinaufgekommen, eine in Deutsch¬ land ungewöhnliche Ausbildung der zartesten Sittlichkeit, beinahe Heiligkeit gegolten. "Nur (setzte Linda hinzu) hatten sie in der Sittlich¬ keit wie in der Kunst, Vorurtheile des feinen Geschmacks und mehr Zartheit als Genie." --
Sie giengen zum Dorfe hinaus, der schön¬ sten Abendsonne entgegen; auf den Bergen ant¬ worteten sich Alphörner, und im Thale gien¬ gen heitere Greise zu leichten Geschäften. Die¬ se grüßte Idoine mit besonderer Liebe, weil es, sagte sie, nichts schöneres gebe als Heiterkeit auf einem alten Gesicht, und unter Landleuten sey sie immer das Zeichen eines wohl und fromm geführten Lebens.
Linda öffnete ihr Herz der goldnen Gegen¬ wart und sagte: "wie müßte dies alles in ei¬
Ort und Stelle ſelber kennen lernte auf meiner Reiſe. Nach den Franzöſinnen ſtell' ich ſogleich meine Schweizer.“ — Julienne verſetzte: „Sie ſagen mir Räthſel vor.“ Sie löſete ihr ſie, und Linda, die kurz nach ihr in Frankreich ge¬ weſen, beſtätigte es, daß da unter den Wei¬ bern von gewiſſem höhern Ton, zu denen kein Crebillon je hinaufgekommen, eine in Deutſch¬ land ungewöhnliche Ausbildung der zarteſten Sittlichkeit, beinahe Heiligkeit gegolten. „Nur (ſetzte Linda hinzu) hatten ſie in der Sittlich¬ keit wie in der Kunſt, Vorurtheile des feinen Geſchmacks und mehr Zartheit als Genie.“ —
Sie giengen zum Dorfe hinaus, der ſchön¬ ſten Abendſonne entgegen; auf den Bergen ant¬ worteten ſich Alphörner, und im Thale gien¬ gen heitere Greiſe zu leichten Geſchäften. Die¬ ſe grüßte Idoine mit beſonderer Liebe, weil es, ſagte ſie, nichts ſchöneres gebe als Heiterkeit auf einem alten Geſicht, und unter Landleuten ſey ſie immer das Zeichen eines wohl und fromm geführten Lebens.
Linda öffnete ihr Herz der goldnen Gegen¬ wart und ſagte: „wie müßte dies alles in ei¬
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Ort und Stelle ſelber kennen lernte auf meiner
Reiſe. Nach den Franzöſinnen ſtell' ich ſogleich
meine Schweizer.“ — Julienne verſetzte: „Sie
ſagen mir Räthſel vor.“ Sie löſete ihr ſie,
und Linda, die kurz nach ihr in Frankreich ge¬
weſen, beſtätigte es, daß da unter den Wei¬
bern von gewiſſem höhern Ton, zu denen kein
Crebillon je hinaufgekommen, eine in Deutſch¬
land ungewöhnliche Ausbildung der zarteſten
Sittlichkeit, beinahe Heiligkeit gegolten. „Nur
(ſetzte Linda hinzu) hatten ſie in der Sittlich¬
keit wie in der Kunſt, Vorurtheile des feinen
Geſchmacks und mehr Zartheit als Genie.“ —
Sie giengen zum Dorfe hinaus, der ſchön¬
ſten Abendſonne entgegen; auf den Bergen ant¬
worteten ſich Alphörner, und im Thale gien¬
gen heitere Greiſe zu leichten Geſchäften. Die¬
ſe grüßte Idoine mit beſonderer Liebe, weil es,
ſagte ſie, nichts ſchöneres gebe als Heiterkeit
auf einem alten Geſicht, und unter Landleuten
ſey ſie immer das Zeichen eines wohl und fromm
geführten Lebens.
Linda öffnete ihr Herz der goldnen Gegen¬
wart und ſagte: „wie müßte dies alles in ei¬
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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/342>, abgerufen am 22.11.2024.
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