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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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gangen, verzieh!" lispelte Linda. Er blieb; aber
beide hatten keine Worte mehr, nur die Au¬
gen; die festgehaltenen Adler, die vorhin den
himmlischen Venuswagen durch den Himmel
gerissen, flatterten daran wild auf. Der Abend¬
stern gieng unter; der halbe Mond in der Him¬
melsmitte legte Strahlen als Zauberstäbe an
die Erde an und verwandelte sie in eine heili¬
ge blasse Welt des Herzens. "Nur noch den
großen Stern lass' hinab" -- sagte sie und
sah ihn sehnsüchtig an. Er that's. Die Nach¬
tigallen hüpften tönend zwischen den Silber¬
zweigen; nur die Menschen hatten Himmel und
Liebe ohne Stimme.

"Nur noch ein Sternchen!" bat sie; er ge¬
horchte, schon vom Worte gerührt; aber sie
entschied sich selber und sagte: "Nein, geh!"
-- "Wir wollen, Dian!" sagt' er. Dieser gieng
Liebe-schonend die Terrassen voraus hinab.
Heftig und lange lagen die beiden Geschwister
einander am Herzen und wünschten sich ein hei¬
teres unbestürmtes Wiederfinden. Linda gab
ihm nur die Hand und sagte kein Wort; wie
der stille Himmel der Nacht seine heisse Sonne be¬

gangen, verzieh!“ liſpelte Linda. Er blieb; aber
beide hatten keine Worte mehr, nur die Au¬
gen; die feſtgehaltenen Adler, die vorhin den
himmliſchen Venuswagen durch den Himmel
geriſſen, flatterten daran wild auf. Der Abend¬
ſtern gieng unter; der halbe Mond in der Him¬
melsmitte legte Strahlen als Zauberſtäbe an
die Erde an und verwandelte ſie in eine heili¬
ge blaſſe Welt des Herzens. „Nur noch den
großen Stern laſſ' hinab“ — ſagte ſie und
ſah ihn ſehnſüchtig an. Er that's. Die Nach¬
tigallen hüpften tönend zwiſchen den Silber¬
zweigen; nur die Menſchen hatten Himmel und
Liebe ohne Stimme.

„Nur noch ein Sternchen!“ bat ſie; er ge¬
horchte, ſchon vom Worte gerührt; aber ſie
entſchied ſich ſelber und ſagte: „Nein, geh!“
— „Wir wollen, Dian!“ ſagt' er. Dieſer gieng
Liebe-ſchonend die Terraſſen voraus hinab.
Heftig und lange lagen die beiden Geſchwiſter
einander am Herzen und wünſchten ſich ein hei¬
teres unbeſtürmtes Wiederfinden. Linda gab
ihm nur die Hand und ſagte kein Wort; wie
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[251/0263] gangen, verzieh!“ liſpelte Linda. Er blieb; aber beide hatten keine Worte mehr, nur die Au¬ gen; die feſtgehaltenen Adler, die vorhin den himmliſchen Venuswagen durch den Himmel geriſſen, flatterten daran wild auf. Der Abend¬ ſtern gieng unter; der halbe Mond in der Him¬ melsmitte legte Strahlen als Zauberſtäbe an die Erde an und verwandelte ſie in eine heili¬ ge blaſſe Welt des Herzens. „Nur noch den großen Stern laſſ' hinab“ — ſagte ſie und ſah ihn ſehnſüchtig an. Er that's. Die Nach¬ tigallen hüpften tönend zwiſchen den Silber¬ zweigen; nur die Menſchen hatten Himmel und Liebe ohne Stimme. „Nur noch ein Sternchen!“ bat ſie; er ge¬ horchte, ſchon vom Worte gerührt; aber ſie entſchied ſich ſelber und ſagte: „Nein, geh!“ — „Wir wollen, Dian!“ ſagt' er. Dieſer gieng Liebe-ſchonend die Terraſſen voraus hinab. Heftig und lange lagen die beiden Geſchwiſter einander am Herzen und wünſchten ſich ein hei¬ teres unbeſtürmtes Wiederfinden. Linda gab ihm nur die Hand und ſagte kein Wort; wie der ſtille Himmel der Nacht ſeine heiſſe Sonne be¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/263>, abgerufen am 25.11.2024.