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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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Du nicht gleich jeden Gedanken aus meinem
Herzen schöpfst und ich aus Deinem! Warum
stellt mir das Ausbleiben Deines Briefs auf
einmal größere Schmerzen, ach die größten vor
die Seele? Warum denk' ich die tiefsten Schmer¬
zensstriche auf unserer Stirn, die Runzeln des
Lebens sind nur kleine Linien aus dem unge¬
heuern Bauriß, den der Weltgeist zieht, unbe¬
kümmert, welche Stirnen und Freuden seine
Glückslinie schmerzhaft durchschneide? -- Wenn
diese Linie einmal durch unsere Liebe gienge --
O vergieb den voreilenden Schmerz, in diesem
Leben, dem Wechsel zwischen Strichgewittern
und Sonnenblicken, ist er wohl erlaubt . . . .


Hier unterbrach ihn die Freude und Dian
in Begleitung eines Ischianers, der einen
Brief von Linda brachte, um seinen mitzuneh¬
men. Er las ihn heftig und gab seinem noch
die Worte wie eine Freudenthräne mit: "Über¬
morgen komm' ich auf die Insel. Was ist
die Erde gegen ein Herz? Du bist mächtig,
Du hältst mein ganzes blühendes Daseyn em¬

Du nicht gleich jeden Gedanken aus meinem
Herzen ſchöpfſt und ich aus Deinem! Warum
ſtellt mir das Ausbleiben Deines Briefs auf
einmal größere Schmerzen, ach die größten vor
die Seele? Warum denk' ich die tiefſten Schmer¬
zensſtriche auf unſerer Stirn, die Runzeln des
Lebens ſind nur kleine Linien aus dem unge¬
heuern Bauriß, den der Weltgeiſt zieht, unbe¬
kümmert, welche Stirnen und Freuden ſeine
Glückslinie ſchmerzhaft durchſchneide? — Wenn
dieſe Linie einmal durch unſere Liebe gienge —
O vergieb den voreilenden Schmerz, in dieſem
Leben, dem Wechſel zwiſchen Strichgewittern
und Sonnenblicken, iſt er wohl erlaubt . . . .


Hier unterbrach ihn die Freude und Dian
in Begleitung eines Iſchianers, der einen
Brief von Linda brachte, um ſeinen mitzuneh¬
men. Er las ihn heftig und gab ſeinem noch
die Worte wie eine Freudenthräne mit: „Über¬
morgen komm' ich auf die Inſel. Was iſt
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[188/0200] Du nicht gleich jeden Gedanken aus meinem Herzen ſchöpfſt und ich aus Deinem! Warum ſtellt mir das Ausbleiben Deines Briefs auf einmal größere Schmerzen, ach die größten vor die Seele? Warum denk' ich die tiefſten Schmer¬ zensſtriche auf unſerer Stirn, die Runzeln des Lebens ſind nur kleine Linien aus dem unge¬ heuern Bauriß, den der Weltgeiſt zieht, unbe¬ kümmert, welche Stirnen und Freuden ſeine Glückslinie ſchmerzhaft durchſchneide? — Wenn dieſe Linie einmal durch unſere Liebe gienge — O vergieb den voreilenden Schmerz, in dieſem Leben, dem Wechſel zwiſchen Strichgewittern und Sonnenblicken, iſt er wohl erlaubt . . . . Hier unterbrach ihn die Freude und Dian in Begleitung eines Iſchianers, der einen Brief von Linda brachte, um ſeinen mitzuneh¬ men. Er las ihn heftig und gab ſeinem noch die Worte wie eine Freudenthräne mit: „Über¬ morgen komm' ich auf die Inſel. Was iſt die Erde gegen ein Herz? Du biſt mächtig, Du hältſt mein ganzes blühendes Daſeyn em¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/200>, abgerufen am 24.11.2024.