Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

"Nicht einmal die Rosen des Abends (sagte
Julienne) sind ohne Dornen." "Abgebrochen,
ist überall das Beste; wir wollen nach Hause,"
sagte Linda. Albano bat, daß er begleiten
dürfe. "Wozu?" sagte Linda. -- Leise setzte
sie ihrer Augen wegen dabei: "ich kann Euch
kaum mehr sehen -- indeß kommt nur, ich hö¬
re doch." -- "Schöne Veränderliche!" sagte
Julienne. "Ich verändere mich, (sagte sie,)
aber kein Anderer -- nur bis zur Kapelle, Al¬
bano, Ihr schiffet morgen früh fort," -- "Nicht
einmal, heute noch vielleicht," sagte er.

Indem sie nun so langsam und immer lang¬
samer den Berg hinangiengen und die Nachti¬
gallen schlugen und die Myrtenblüthen dufte¬
ten und die lauen Lüfte flatterten und oben die
ganze zweite Welt wie eine verschleierte Nonne
durch die Silber-Gitter der Sternbilder heilig
schauete: so überfloß jedes Herz von treuer
Liebe, und der Bruder und die Schwester und
die Geliebte nahmen wechselnd einander die
Hand.

Auf einmal stand Linda an der Stelle der
gestrigen Vereinigung und sagte: "hier soll

„Nicht einmal die Roſen des Abends (ſagte
Julienne) ſind ohne Dornen.“ „Abgebrochen,
iſt überall das Beſte; wir wollen nach Hauſe,“
ſagte Linda. Albano bat, daß er begleiten
dürfe. „Wozu?“ ſagte Linda. — Leiſe ſetzte
ſie ihrer Augen wegen dabei: „ich kann Euch
kaum mehr ſehen — indeß kommt nur, ich hö¬
re doch.“ — „Schöne Veränderliche!“ ſagte
Julienne. „Ich verändere mich, (ſagte ſie,)
aber kein Anderer — nur bis zur Kapelle, Al¬
bano, Ihr ſchiffet morgen früh fort,“ — „Nicht
einmal, heute noch vielleicht,“ ſagte er.

Indem ſie nun ſo langſam und immer lang¬
ſamer den Berg hinangiengen und die Nachti¬
gallen ſchlugen und die Myrtenblüthen dufte¬
ten und die lauen Lüfte flatterten und oben die
ganze zweite Welt wie eine verſchleierte Nonne
durch die Silber-Gitter der Sternbilder heilig
ſchauete: ſo überfloß jedes Herz von treuer
Liebe, und der Bruder und die Schweſter und
die Geliebte nahmen wechſelnd einander die
Hand.

Auf einmal ſtand Linda an der Stelle der
geſtrigen Vereinigung und ſagte: „hier ſoll

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0182" n="170"/>
&#x201E;Nicht einmal die Ro&#x017F;en des Abends (&#x017F;agte<lb/>
Julienne) &#x017F;ind ohne Dornen.&#x201C; &#x201E;Abgebrochen,<lb/>
i&#x017F;t überall das Be&#x017F;te; wir wollen nach Hau&#x017F;e,&#x201C;<lb/>
&#x017F;agte Linda. Albano bat, daß er begleiten<lb/>
dürfe. &#x201E;Wozu?&#x201C; &#x017F;agte Linda. &#x2014; Lei&#x017F;e &#x017F;etzte<lb/>
&#x017F;ie ihrer Augen wegen dabei: &#x201E;ich kann Euch<lb/>
kaum mehr &#x017F;ehen &#x2014; indeß kommt nur, ich hö¬<lb/>
re doch.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Schöne Veränderliche!&#x201C; &#x017F;agte<lb/>
Julienne. &#x201E;Ich verändere mich, (&#x017F;agte &#x017F;ie,)<lb/>
aber kein Anderer &#x2014; nur bis zur Kapelle, Al¬<lb/>
bano, Ihr &#x017F;chiffet morgen früh fort,&#x201C; &#x2014; &#x201E;Nicht<lb/>
einmal, heute noch vielleicht,&#x201C; &#x017F;agte er.</p><lb/>
          <p>Indem &#x017F;ie nun &#x017F;o lang&#x017F;am und immer lang¬<lb/>
&#x017F;amer den Berg hinangiengen und die Nachti¬<lb/>
gallen &#x017F;chlugen und die Myrtenblüthen dufte¬<lb/>
ten und die lauen Lüfte flatterten und oben die<lb/>
ganze zweite Welt wie eine ver&#x017F;chleierte Nonne<lb/>
durch die Silber-Gitter der Sternbilder heilig<lb/>
&#x017F;chauete: &#x017F;o überfloß jedes Herz von treuer<lb/>
Liebe, und der Bruder und die Schwe&#x017F;ter und<lb/>
die Geliebte nahmen wech&#x017F;elnd einander die<lb/>
Hand.</p><lb/>
          <p>Auf einmal &#x017F;tand Linda an der Stelle der<lb/>
ge&#x017F;trigen Vereinigung und &#x017F;agte: &#x201E;hier &#x017F;oll<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0182] „Nicht einmal die Roſen des Abends (ſagte Julienne) ſind ohne Dornen.“ „Abgebrochen, iſt überall das Beſte; wir wollen nach Hauſe,“ ſagte Linda. Albano bat, daß er begleiten dürfe. „Wozu?“ ſagte Linda. — Leiſe ſetzte ſie ihrer Augen wegen dabei: „ich kann Euch kaum mehr ſehen — indeß kommt nur, ich hö¬ re doch.“ — „Schöne Veränderliche!“ ſagte Julienne. „Ich verändere mich, (ſagte ſie,) aber kein Anderer — nur bis zur Kapelle, Al¬ bano, Ihr ſchiffet morgen früh fort,“ — „Nicht einmal, heute noch vielleicht,“ ſagte er. Indem ſie nun ſo langſam und immer lang¬ ſamer den Berg hinangiengen und die Nachti¬ gallen ſchlugen und die Myrtenblüthen dufte¬ ten und die lauen Lüfte flatterten und oben die ganze zweite Welt wie eine verſchleierte Nonne durch die Silber-Gitter der Sternbilder heilig ſchauete: ſo überfloß jedes Herz von treuer Liebe, und der Bruder und die Schweſter und die Geliebte nahmen wechſelnd einander die Hand. Auf einmal ſtand Linda an der Stelle der geſtrigen Vereinigung und ſagte: „hier ſoll

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/182
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/182>, abgerufen am 25.11.2024.