Eben so wenig fand er für sich oder für ein Blatt eine Treppe zu ihr. Sogar der Hauptmann war seit einigen Tagen nach Haarhaar verreiset. Mit müden Hän¬ den hielt er den schweren, ausgetrunknen Freudenbecher, der leer am schwersten wiegt. -- Die wilden Hypothesen, welche der Mensch in einem solchen Falle durch sich traben lässet -- wie in diesem, z. B. die von Lianens Krank¬ heit, Erkältung, Gefängniß, Abreise -- sind in ihrem Wechsel und Werthe mit Nichts zu ver¬ gleichen als mit der eben so großen Wildheit und Zahl der Plane, die er anwirbt und ab¬ dankt, z. B. den der Entführung, des Hasses, der Duelle, der Verzweiflung.
Die harte, feststehende Zeit hatte keinen Zeiger auf ihrem Zifferblatte. Er stand seinem Schicksal so nahe wie der Mensch seinen Träu¬ men; ohne daß er beider Gestalt erkennen oder vorbereiten kann. Er gieng oft in die Stadt, deren sämmtliche Gassen durchritten, durch¬ laufen und durchfahren wurden, weil man die Balken zum herrlichsten Throngerüste zusam¬ mentragen und nageln wollte, auf welchen sich
Eben ſo wenig fand er für ſich oder für ein Blatt eine Treppe zu ihr. Sogar der Hauptmann war ſeit einigen Tagen nach Haarhaar verreiſet. Mit müden Hän¬ den hielt er den ſchweren, ausgetrunknen Freudenbecher, der leer am ſchwerſten wiegt. — Die wilden Hypotheſen, welche der Menſch in einem ſolchen Falle durch ſich traben läſſet — wie in dieſem, z. B. die von Lianens Krank¬ heit, Erkältung, Gefängniß, Abreiſe — ſind in ihrem Wechſel und Werthe mit Nichts zu ver¬ gleichen als mit der eben ſo großen Wildheit und Zahl der Plane, die er anwirbt und ab¬ dankt, z. B. den der Entführung, des Haſſes, der Duelle, der Verzweiflung.
Die harte, feſtſtehende Zeit hatte keinen Zeiger auf ihrem Zifferblatte. Er ſtand ſeinem Schickſal ſo nahe wie der Menſch ſeinen Träu¬ men; ohne daß er beider Geſtalt erkennen oder vorbereiten kann. Er gieng oft in die Stadt, deren ſämmtliche Gaſſen durchritten, durch¬ laufen und durchfahren wurden, weil man die Balken zum herrlichſten Throngerüſte zuſam¬ mentragen und nageln wollte, auf welchen ſich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0096"n="84"/><p>Eben ſo wenig fand er für ſich oder<lb/>
für ein Blatt eine Treppe zu ihr. Sogar<lb/>
der Hauptmann war ſeit einigen Tagen<lb/>
nach Haarhaar verreiſet. Mit müden Hän¬<lb/>
den hielt er den ſchweren, ausgetrunknen<lb/>
Freudenbecher, der leer am ſchwerſten wiegt. —<lb/>
Die wilden Hypotheſen, welche der Menſch in<lb/>
einem ſolchen Falle durch ſich traben läſſet —<lb/>
wie in dieſem, z. B. die von Lianens Krank¬<lb/>
heit, Erkältung, Gefängniß, Abreiſe —ſind in<lb/>
ihrem Wechſel und Werthe mit Nichts zu ver¬<lb/>
gleichen als mit der eben ſo großen Wildheit<lb/>
und Zahl der Plane, die er anwirbt und ab¬<lb/>
dankt, z. B. den der Entführung, des Haſſes,<lb/>
der Duelle, der Verzweiflung.</p><lb/><p>Die harte, feſtſtehende Zeit hatte keinen<lb/>
Zeiger auf ihrem Zifferblatte. Er ſtand ſeinem<lb/>
Schickſal ſo nahe wie der Menſch ſeinen Träu¬<lb/>
men; ohne daß er beider Geſtalt erkennen oder<lb/>
vorbereiten kann. Er gieng oft in die Stadt,<lb/>
deren ſämmtliche Gaſſen durchritten, durch¬<lb/>
laufen und durchfahren wurden, weil man die<lb/>
Balken zum herrlichſten Throngerüſte zuſam¬<lb/>
mentragen und nageln wollte, auf welchen ſich<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[84/0096]
Eben ſo wenig fand er für ſich oder
für ein Blatt eine Treppe zu ihr. Sogar
der Hauptmann war ſeit einigen Tagen
nach Haarhaar verreiſet. Mit müden Hän¬
den hielt er den ſchweren, ausgetrunknen
Freudenbecher, der leer am ſchwerſten wiegt. —
Die wilden Hypotheſen, welche der Menſch in
einem ſolchen Falle durch ſich traben läſſet —
wie in dieſem, z. B. die von Lianens Krank¬
heit, Erkältung, Gefängniß, Abreiſe — ſind in
ihrem Wechſel und Werthe mit Nichts zu ver¬
gleichen als mit der eben ſo großen Wildheit
und Zahl der Plane, die er anwirbt und ab¬
dankt, z. B. den der Entführung, des Haſſes,
der Duelle, der Verzweiflung.
Die harte, feſtſtehende Zeit hatte keinen
Zeiger auf ihrem Zifferblatte. Er ſtand ſeinem
Schickſal ſo nahe wie der Menſch ſeinen Träu¬
men; ohne daß er beider Geſtalt erkennen oder
vorbereiten kann. Er gieng oft in die Stadt,
deren ſämmtliche Gaſſen durchritten, durch¬
laufen und durchfahren wurden, weil man die
Balken zum herrlichſten Throngerüſte zuſam¬
mentragen und nageln wollte, auf welchen ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/96>, abgerufen am 31.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.