auf zu spielen und unter dem Schleier wurd' es still und unbeweglich.
"Dein Kopf ist schwer und kalt, meine Toch¬ ter," sagte die trostlose Mutter. "Reißt den Schleier weg" rief der Bruder; und als er ihn herunter zog, ruhte Liane zufrieden und lä¬ chelnd darunter, aber gestorben -- die blauen Augen offen nach dem Himmel -- der verklär¬ te Mund noch Liebe athmend -- die jungfräu¬ liche Lilien-Stirn von der tiefer herabgesunk¬ nen Blumenkrone umwunden -- und bleich und verklärt vom Mondschein der höhern Welt die fremde Gestalt, die groß aus den kleinen Leben¬ digen unter ihre hohen Todten trat.
Da quoll die goldne Sonne durch die Wol¬ ken und durch die Thränen hindurch und über¬ goß mit dem blühenden Abendlicht, mit dem jugendlichen Rosen-Öhl ihrer Abendwolken die entfärbte Himmelsschwester, und das verklärte Antlitz blühte wieder jung. Am Himmel schlu¬ gen alle Wolken, berührt von ihren Flügeln, als sie durch sie zog, in lange rothe Blüthen aus -- und durch den hohen über die Erde ge¬ blähten Nebelflor glühten die tausend Rosen
auf zu ſpielen und unter dem Schleier wurd' es ſtill und unbeweglich.
„Dein Kopf iſt ſchwer und kalt, meine Toch¬ ter,“ ſagte die troſtloſe Mutter. „Reißt den Schleier weg“ rief der Bruder; und als er ihn herunter zog, ruhte Liane zufrieden und lä¬ chelnd darunter, aber geſtorben — die blauen Augen offen nach dem Himmel — der verklär¬ te Mund noch Liebe athmend — die jungfräu¬ liche Lilien-Stirn von der tiefer herabgeſunk¬ nen Blumenkrone umwunden — und bleich und verklärt vom Mondſchein der höhern Welt die fremde Geſtalt, die groß aus den kleinen Leben¬ digen unter ihre hohen Todten trat.
Da quoll die goldne Sonne durch die Wol¬ ken und durch die Thränen hindurch und über¬ goß mit dem blühenden Abendlicht, mit dem jugendlichen Roſen-Öhl ihrer Abendwolken die entfärbte Himmelsſchweſter, und das verklärte Antlitz blühte wieder jung. Am Himmel ſchlu¬ gen alle Wolken, berührt von ihren Flügeln, als ſie durch ſie zog, in lange rothe Blüthen aus — und durch den hohen über die Erde ge¬ blähten Nebelflor glühten die tauſend Roſen
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auf zu ſpielen und unter dem Schleier wurd'
es ſtill und unbeweglich.
„Dein Kopf iſt ſchwer und kalt, meine Toch¬
ter,“ ſagte die troſtloſe Mutter. „Reißt den
Schleier weg“ rief der Bruder; und als er ihn
herunter zog, ruhte Liane zufrieden und lä¬
chelnd darunter, aber geſtorben — die blauen
Augen offen nach dem Himmel — der verklär¬
te Mund noch Liebe athmend — die jungfräu¬
liche Lilien-Stirn von der tiefer herabgeſunk¬
nen Blumenkrone umwunden — und bleich und
verklärt vom Mondſchein der höhern Welt die
fremde Geſtalt, die groß aus den kleinen Leben¬
digen unter ihre hohen Todten trat.
Da quoll die goldne Sonne durch die Wol¬
ken und durch die Thränen hindurch und über¬
goß mit dem blühenden Abendlicht, mit dem
jugendlichen Roſen-Öhl ihrer Abendwolken die
entfärbte Himmelsſchweſter, und das verklärte
Antlitz blühte wieder jung. Am Himmel ſchlu¬
gen alle Wolken, berührt von ihren Flügeln,
als ſie durch ſie zog, in lange rothe Blüthen
aus — und durch den hohen über die Erde ge¬
blähten Nebelflor glühten die tauſend Roſen
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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/401>, abgerufen am 04.07.2024.
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