Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801.

Bild:
<< vorherige Seite

hört: "Solche Sterbe-Gedanken, (sagte sie)
"lieb' ich an der Jugend nicht, sie lähmen ihr
"die Flügel." -- "Und dann (versetzte Liane,
"es mädchenhaft-umkehrend) bleibt sie eben;
"wie der Kranich in Kleists Fabel, dem man
"die Flügel brach, damit er nicht fortzog mit
"den übrigen ins warme Land."

Dieser heitere bunte Schleier des tiefen
Ernstes war unserem Freunde nicht durchsichtig
genug. Aber später hatte das gute Mädchen
Mühe so auszusehen, wie die sorgsame Mut¬
ter es wollte. Die betäubende Vorstecklilie der
Erde, der Mond -- und das ganze blendende
Pantheon des Sternenhimmels -- und die mit
Nacht-Lichtern durchbrochne Stadt -- und die
majestätischen hohen schwarzen Alleen -- und
auf Fluren und Bächen das milchblasse Lunens-
Silber, womit sich die Erde in einen Abend¬
stern einspann -- und die Nachtigallen aus fer¬
nen Gärten -- rührte denn das nicht jedes Herz
allmächtig an, daß es weinend seine Sehnsucht
bekennen wollte? Und das weichste, das jetzt
unter den Sternen schlug, hätte vermocht, den
Schleier ganz über sich zu ziehen? -- Beinahe!

hört: „Solche Sterbe-Gedanken, (ſagte ſie)
„lieb' ich an der Jugend nicht, ſie lähmen ihr
„die Flügel.“ — „Und dann (verſetzte Liane,
„es mädchenhaft-umkehrend) bleibt ſie eben;
„wie der Kranich in Kleiſts Fabel, dem man
„die Flügel brach, damit er nicht fortzog mit
„den übrigen ins warme Land.“

Dieſer heitere bunte Schleier des tiefen
Ernſtes war unſerem Freunde nicht durchſichtig
genug. Aber ſpäter hatte das gute Mädchen
Mühe ſo auszuſehen, wie die ſorgſame Mut¬
ter es wollte. Die betäubende Vorſtecklilie der
Erde, der Mond — und das ganze blendende
Pantheon des Sternenhimmels — und die mit
Nacht-Lichtern durchbrochne Stadt — und die
majeſtätiſchen hohen ſchwarzen Alleen — und
auf Fluren und Bächen das milchblaſſe Lunens-
Silber, womit ſich die Erde in einen Abend¬
ſtern einſpann — und die Nachtigallen aus fer¬
nen Gärten — rührte denn das nicht jedes Herz
allmächtig an, daß es weinend ſeine Sehnſucht
bekennen wollte? Und das weichſte, das jetzt
unter den Sternen ſchlug, hätte vermocht, den
Schleier ganz über ſich zu ziehen? — Beinahe!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0065" n="57"/>
hört: &#x201E;Solche Sterbe-Gedanken, (&#x017F;agte &#x017F;ie)<lb/>
&#x201E;lieb' ich an der Jugend nicht, &#x017F;ie lähmen ihr<lb/>
&#x201E;die Flügel.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Und dann (ver&#x017F;etzte Liane,<lb/>
&#x201E;es mädchenhaft-umkehrend) bleibt &#x017F;ie eben;<lb/>
&#x201E;wie der Kranich in Klei&#x017F;ts Fabel, dem man<lb/>
&#x201E;die Flügel brach, damit er nicht fortzog mit<lb/>
&#x201E;den übrigen ins warme Land.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;er heitere bunte Schleier des tiefen<lb/>
Ern&#x017F;tes war un&#x017F;erem Freunde nicht durch&#x017F;ichtig<lb/>
genug. Aber &#x017F;päter hatte das gute Mädchen<lb/>
Mühe &#x017F;o auszu&#x017F;ehen, wie die &#x017F;org&#x017F;ame Mut¬<lb/>
ter es wollte. Die betäubende Vor&#x017F;tecklilie der<lb/>
Erde, der Mond &#x2014; und das ganze blendende<lb/>
Pantheon des Sternenhimmels &#x2014; und die mit<lb/>
Nacht-Lichtern durchbrochne Stadt &#x2014; und die<lb/>
maje&#x017F;täti&#x017F;chen hohen &#x017F;chwarzen Alleen &#x2014; und<lb/>
auf Fluren und Bächen das milchbla&#x017F;&#x017F;e Lunens-<lb/>
Silber, womit &#x017F;ich die Erde in einen Abend¬<lb/>
&#x017F;tern ein&#x017F;pann &#x2014; und die Nachtigallen aus fer¬<lb/>
nen Gärten &#x2014; rührte denn das nicht jedes Herz<lb/>
allmächtig an, daß es weinend &#x017F;eine Sehn&#x017F;ucht<lb/>
bekennen wollte? Und das weich&#x017F;te, das jetzt<lb/>
unter den Sternen &#x017F;chlug, hätte vermocht, den<lb/>
Schleier ganz über &#x017F;ich zu ziehen? &#x2014; Beinahe!<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0065] hört: „Solche Sterbe-Gedanken, (ſagte ſie) „lieb' ich an der Jugend nicht, ſie lähmen ihr „die Flügel.“ — „Und dann (verſetzte Liane, „es mädchenhaft-umkehrend) bleibt ſie eben; „wie der Kranich in Kleiſts Fabel, dem man „die Flügel brach, damit er nicht fortzog mit „den übrigen ins warme Land.“ Dieſer heitere bunte Schleier des tiefen Ernſtes war unſerem Freunde nicht durchſichtig genug. Aber ſpäter hatte das gute Mädchen Mühe ſo auszuſehen, wie die ſorgſame Mut¬ ter es wollte. Die betäubende Vorſtecklilie der Erde, der Mond — und das ganze blendende Pantheon des Sternenhimmels — und die mit Nacht-Lichtern durchbrochne Stadt — und die majeſtätiſchen hohen ſchwarzen Alleen — und auf Fluren und Bächen das milchblaſſe Lunens- Silber, womit ſich die Erde in einen Abend¬ ſtern einſpann — und die Nachtigallen aus fer¬ nen Gärten — rührte denn das nicht jedes Herz allmächtig an, daß es weinend ſeine Sehnſucht bekennen wollte? Und das weichſte, das jetzt unter den Sternen ſchlug, hätte vermocht, den Schleier ganz über ſich zu ziehen? — Beinahe!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/65
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/65>, abgerufen am 26.11.2024.