Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

ziehen aus tiefer Ferne her -- die überirrdische
Erscheinung überfüllt und überwältigt mit
Glanz die sterbliche Brust! --

Ach warum durfte durch diesen hohen rei¬
nen Himmel eine tiefe kalte Wolke ziehen? --
Ach warum fandest du die Himmlische nicht
früher oder später? -- Und warum mußte sie
selber dich, an ihren Schmerz erinnern? --

Denn Liane -- in deren überflortes Auge
nur ein starkes Licht durchsikern konnte --
suchte den Mond, den seine eigne Aurora ein
wenig verhieng, mit dem wiegenden Kopfe ir¬
rend auf, weil sie dachte, ein Lindengipfel ver¬
decke ihn; -- und dieses Wanken malte ihm
ihr Unglück so plötzlich mit tausend Farben!
Ein schneller Schmerz zertrat seine Augen, daß
Thränen daraus sprützten und Funken und das
Mitleiden schrie in ihm: "O du unschuldiges
"Auge, warum wirst du verhüllt? Warum
"wird dieser dankbaren frommen Seele der
"Mai genommen und die ganze Schöpfung?
"-- Und sie wirft vergeblich den Blick der
"Liebe auf die Mutter und auf die Freundinn

Titan. I. Z

ziehen aus tiefer Ferne her — die überirrdiſche
Erſcheinung überfüllt und überwältigt mit
Glanz die ſterbliche Bruſt! —

Ach warum durfte durch dieſen hohen rei¬
nen Himmel eine tiefe kalte Wolke ziehen? —
Ach warum fandeſt du die Himmliſche nicht
früher oder ſpäter? — Und warum mußte ſie
ſelber dich, an ihren Schmerz erinnern? —

Denn Liane — in deren überflortes Auge
nur ein ſtarkes Licht durchſikern konnte —
ſuchte den Mond, den ſeine eigne Aurora ein
wenig verhieng, mit dem wiegenden Kopfe ir¬
rend auf, weil ſie dachte, ein Lindengipfel ver¬
decke ihn; — und dieſes Wanken malte ihm
ihr Unglück ſo plötzlich mit tauſend Farben!
Ein ſchneller Schmerz zertrat ſeine Augen, daß
Thränen daraus ſprützten und Funken und das
Mitleiden ſchrie in ihm: „O du unſchuldiges
„Auge, warum wirſt du verhüllt? Warum
„wird dieſer dankbaren frommen Seele der
„Mai genommen und die ganze Schöpfung?
„— Und ſie wirft vergeblich den Blick der
„Liebe auf die Mutter und auf die Freundinn

Titan. I. Z
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0373" n="353"/>
ziehen aus tiefer Ferne her &#x2014; die überirrdi&#x017F;che<lb/>
Er&#x017F;cheinung überfüllt und überwältigt mit<lb/>
Glanz die &#x017F;terbliche Bru&#x017F;t! &#x2014;</p><lb/>
          <p>Ach warum durfte durch die&#x017F;en hohen rei¬<lb/>
nen Himmel eine tiefe kalte Wolke ziehen? &#x2014;<lb/>
Ach warum fande&#x017F;t du die Himmli&#x017F;che nicht<lb/>
früher oder &#x017F;päter? &#x2014; Und warum mußte &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;elber dich, an ihren Schmerz erinnern? &#x2014;</p><lb/>
          <p>Denn Liane &#x2014; in deren überflortes Auge<lb/>
nur ein &#x017F;tarkes Licht durch&#x017F;ikern konnte &#x2014;<lb/>
&#x017F;uchte den Mond, den &#x017F;eine eigne Aurora ein<lb/>
wenig verhieng, mit dem wiegenden Kopfe ir¬<lb/>
rend auf, weil &#x017F;ie dachte, ein Lindengipfel ver¬<lb/>
decke ihn; &#x2014; und die&#x017F;es Wanken malte ihm<lb/>
ihr Unglück &#x017F;o plötzlich mit tau&#x017F;end Farben!<lb/>
Ein &#x017F;chneller Schmerz zertrat &#x017F;eine Augen, daß<lb/>
Thränen daraus &#x017F;prützten und Funken und das<lb/>
Mitleiden &#x017F;chrie in ihm: &#x201E;O du un&#x017F;chuldiges<lb/>
&#x201E;Auge, warum wir&#x017F;t du verhüllt? Warum<lb/>
&#x201E;wird die&#x017F;er dankbaren frommen Seele der<lb/>
&#x201E;Mai genommen und die ganze Schöpfung?<lb/>
&#x201E;&#x2014; Und &#x017F;ie wirft vergeblich den Blick der<lb/>
&#x201E;Liebe auf die Mutter und auf die Freundinn<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Titan. I. Z<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[353/0373] ziehen aus tiefer Ferne her — die überirrdiſche Erſcheinung überfüllt und überwältigt mit Glanz die ſterbliche Bruſt! — Ach warum durfte durch dieſen hohen rei¬ nen Himmel eine tiefe kalte Wolke ziehen? — Ach warum fandeſt du die Himmliſche nicht früher oder ſpäter? — Und warum mußte ſie ſelber dich, an ihren Schmerz erinnern? — Denn Liane — in deren überflortes Auge nur ein ſtarkes Licht durchſikern konnte — ſuchte den Mond, den ſeine eigne Aurora ein wenig verhieng, mit dem wiegenden Kopfe ir¬ rend auf, weil ſie dachte, ein Lindengipfel ver¬ decke ihn; — und dieſes Wanken malte ihm ihr Unglück ſo plötzlich mit tauſend Farben! Ein ſchneller Schmerz zertrat ſeine Augen, daß Thränen daraus ſprützten und Funken und das Mitleiden ſchrie in ihm: „O du unſchuldiges „Auge, warum wirſt du verhüllt? Warum „wird dieſer dankbaren frommen Seele der „Mai genommen und die ganze Schöpfung? „— Und ſie wirft vergeblich den Blick der „Liebe auf die Mutter und auf die Freundinn Titan. I. Z

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/373
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/373>, abgerufen am 25.11.2024.