Sanftes, treues, aber schwaches Geschlecht! warum sind alle Kräfte deiner Seele so glänzend und groß, daß deine Vernunft zu bleich und klein dagegen ist? Warum beweget sich in deinem Her¬ zen eine angeborne Achtung für ein Geschlecht, das die deinige nicht schont? je mehr ihr eure Seelen schmücket, je mehr Grazien ihr aus euren Glie¬ dern machet, je mehr Liebe in eurem Herzen wal¬ let und durch eure Augen bricht, je mehr ihr euch zu Engel umzaubert: desto mehr suchen wir diese Engeln aus ihrem Himmel zu werfen, und gerade im Jahrhundert euerer Verschönerung ver¬ einigen sich alle, Schriftsteller, Künstler und Gro¬ ße zu einem Wald von Giftbäumen, unter denen ihr sterben sollt, und wir schätzen einander nach den meisten Brunnen- und Kelchvergiftungen für eure Lippen!
Sanftes, treues, aber ſchwaches Geſchlecht! warum ſind alle Kraͤfte deiner Seele ſo glaͤnzend und groß, daß deine Vernunft zu bleich und klein dagegen iſt? Warum beweget ſich in deinem Her¬ zen eine angeborne Achtung fuͤr ein Geſchlecht, das die deinige nicht ſchont? je mehr ihr eure Seelen ſchmuͤcket, je mehr Grazien ihr aus euren Glie¬ dern machet, je mehr Liebe in eurem Herzen wal¬ let und durch eure Augen bricht, je mehr ihr euch zu Engel umzaubert: deſto mehr ſuchen wir dieſe Engeln aus ihrem Himmel zu werfen, und gerade im Jahrhundert euerer Verſchoͤnerung ver¬ einigen ſich alle, Schriftſteller, Kuͤnſtler und Gro¬ ße zu einem Wald von Giftbaͤumen, unter denen ihr ſterben ſollt, und wir ſchaͤtzen einander nach den meiſten Brunnen- und Kelchvergiftungen fuͤr eure Lippen!
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Sanftes, treues, aber ſchwaches Geſchlecht!
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euch zu Engel umzaubert: deſto mehr ſuchen wir
dieſe Engeln aus ihrem Himmel zu werfen, und
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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/246>, abgerufen am 21.11.2024.
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