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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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über die Schönen alle Häßlichen und über die
Schönste alle Schönen -- ich gebe Ihnen den
Preis der Tugend, geben Sie mir den der Em¬
pfindung -- oder darf ich mir ihn geben?" und ha¬
stig zuckten seine Lippen nach ihren Wangen, auf
denen bisher mehr Thränen als Küsse waren; allein
sie wich ihm mit einem kalten Erstaunen, das er
an allen Weibern wärmer gefunden hatte, weder
um einen Zoll zu viel noch zu wenig aus und reich¬
te bei ihm in einem Tone, in dem man zugleich
die Ehrfurcht einer Unterthanin, die Ruhe einer
Tugendhaften und die Kälte einer Unerbittlichen
fand, kurz in einem Tone als hätte ihre Bitte mit
dem Vorgegangnen gar keine Verbindung, auf
diese Art reichte sie ihre unterthänige Supplik ein,
er möchte allergnädigst sich, da ihr der Doktor ge¬
sagt hätte, sie könne heute nichts schlimmers thun
als wachen, sich -- wie ich mich ausgedrückt ha¬
ben würde -- zum Henker scheren. Eh' er so weit
gieng: badinirte er noch einige Minuten, kam
darüber beinahe wieder in den alten Ton, legte
seine Inhäsiv-Pro-Reprotestationen ein und zog ab.

Nichts als die Ruhe, die sie aus den Händen
der Tugend und der -- Liebe und des Gustavi¬

uͤber die Schoͤnen alle Haͤßlichen und uͤber die
Schoͤnſte alle Schoͤnen — ich gebe Ihnen den
Preis der Tugend, geben Sie mir den der Em¬
pfindung — oder darf ich mir ihn geben?“ und ha¬
ſtig zuckten ſeine Lippen nach ihren Wangen, auf
denen bisher mehr Thraͤnen als Kuͤſſe waren; allein
ſie wich ihm mit einem kalten Erſtaunen, das er
an allen Weibern waͤrmer gefunden hatte, weder
um einen Zoll zu viel noch zu wenig aus und reich¬
te bei ihm in einem Tone, in dem man zugleich
die Ehrfurcht einer Unterthanin, die Ruhe einer
Tugendhaften und die Kaͤlte einer Unerbittlichen
fand, kurz in einem Tone als haͤtte ihre Bitte mit
dem Vorgegangnen gar keine Verbindung, auf
dieſe Art reichte ſie ihre unterthaͤnige Supplik ein,
er moͤchte allergnaͤdigſt ſich, da ihr der Doktor ge¬
ſagt haͤtte, ſie koͤnne heute nichts ſchlimmers thun
als wachen, ſich — wie ich mich ausgedruͤckt ha¬
ben wuͤrde — zum Henker ſcheren. Eh' er ſo weit
gieng: badinirte er noch einige Minuten, kam
daruͤber beinahe wieder in den alten Ton, legte
ſeine Inhaͤſiv-Pro-Reproteſtationen ein und zog ab.

Nichts als die Ruhe, die ſie aus den Haͤnden
der Tugend und der — Liebe und des Guſtavi¬

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[230/0240] uͤber die Schoͤnen alle Haͤßlichen und uͤber die Schoͤnſte alle Schoͤnen — ich gebe Ihnen den Preis der Tugend, geben Sie mir den der Em¬ pfindung — oder darf ich mir ihn geben?“ und ha¬ ſtig zuckten ſeine Lippen nach ihren Wangen, auf denen bisher mehr Thraͤnen als Kuͤſſe waren; allein ſie wich ihm mit einem kalten Erſtaunen, das er an allen Weibern waͤrmer gefunden hatte, weder um einen Zoll zu viel noch zu wenig aus und reich¬ te bei ihm in einem Tone, in dem man zugleich die Ehrfurcht einer Unterthanin, die Ruhe einer Tugendhaften und die Kaͤlte einer Unerbittlichen fand, kurz in einem Tone als haͤtte ihre Bitte mit dem Vorgegangnen gar keine Verbindung, auf dieſe Art reichte ſie ihre unterthaͤnige Supplik ein, er moͤchte allergnaͤdigſt ſich, da ihr der Doktor ge¬ ſagt haͤtte, ſie koͤnne heute nichts ſchlimmers thun als wachen, ſich — wie ich mich ausgedruͤckt ha¬ ben wuͤrde — zum Henker ſcheren. Eh' er ſo weit gieng: badinirte er noch einige Minuten, kam daruͤber beinahe wieder in den alten Ton, legte ſeine Inhaͤſiv-Pro-Reproteſtationen ein und zog ab. Nichts als die Ruhe, die ſie aus den Haͤnden der Tugend und der — Liebe und des Guſtavi¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/240>, abgerufen am 04.05.2024.