Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

stand hier einsam in einer weiten Stille -- ich wand¬
te mich zur heruntergegangnen Sonne, ich dachte
daran, daß ich sie einmal für Gott gehalten, und
es fiel heute schwer auf mich, daß ich den, ders war,
bisher so selten gedacht -- "o Du, Du!" rief so
nahe an ihm mein ganzes Wesen -- aber allen Spra¬
chen und allen Herzen und allen Gefühlen entfällt
vor ihm die Zunge und Beten ist Verstummen,
nicht bloß mit den Lippen, auch mit dem Gedan¬
ken
. . . . Aber der große Geist, der die Schwä¬
che des guten Menschen kennt, hat ihm Mitbrü¬
der herabgesandt, damit der Mensch sich vor dem
Menschen öfne und vor ihnen das Gebet, in dem
er verstummte, vollende. -- --

O Freund meiner schönsten Jahre! der du
Dankbarkeit und Demuth in meinem Innersten be¬
festigt hast, diese hab' ich gefühlt als ich auf dem
Eremitenberg mich einsam über das geschaffne Ge¬
würm erhob und fühlte, was der Mensch fühlt
aber nur er auf der Erde -- als ich einsam vor
dem bis ins Nichts hinausreichenden großen Spie¬
gel, an den sich das Insekt mit Fühlhörnern stös¬
set, mit Menschenaugen knien konnte, vor dem
Spiegel, aus dem der unendliche Sonnen-Riese

ſtand hier einſam in einer weiten Stille — ich wand¬
te mich zur heruntergegangnen Sonne, ich dachte
daran, daß ich ſie einmal fuͤr Gott gehalten, und
es fiel heute ſchwer auf mich, daß ich den, ders war,
bisher ſo ſelten gedacht — „o Du, Du!” rief ſo
nahe an ihm mein ganzes Weſen — aber allen Spra¬
chen und allen Herzen und allen Gefuͤhlen entfaͤllt
vor ihm die Zunge und Beten iſt Verſtummen,
nicht bloß mit den Lippen, auch mit dem Gedan¬
ken
. . . . Aber der große Geiſt, der die Schwaͤ¬
che des guten Menſchen kennt, hat ihm Mitbruͤ¬
der herabgeſandt, damit der Menſch ſich vor dem
Menſchen oͤfne und vor ihnen das Gebet, in dem
er verſtummte, vollende. — —

O Freund meiner ſchoͤnſten Jahre! der du
Dankbarkeit und Demuth in meinem Innerſten be¬
feſtigt haſt, dieſe hab’ ich gefuͤhlt als ich auf dem
Eremitenberg mich einſam uͤber das geſchaffne Ge¬
wuͤrm erhob und fuͤhlte, was der Menſch fuͤhlt
aber nur er auf der Erde — als ich einſam vor
dem bis ins Nichts hinausreichenden großen Spie¬
gel, an den ſich das Inſekt mit Fuͤhlhoͤrnern ſtoͤſ¬
ſet, mit Menſchenaugen knien konnte, vor dem
Spiegel, aus dem der unendliche Sonnen-Rieſe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0021" n="II"/>
&#x017F;tand hier ein&#x017F;am in einer weiten Stille &#x2014; ich wand¬<lb/>
te mich zur heruntergegangnen Sonne, ich dachte<lb/>
daran, daß ich &#x017F;ie einmal fu&#x0364;r Gott gehalten, und<lb/>
es fiel heute &#x017F;chwer auf mich, daß ich den, ders war,<lb/>
bisher &#x017F;o &#x017F;elten gedacht &#x2014; &#x201E;o Du, Du!&#x201D; rief &#x017F;o<lb/>
nahe an ihm mein ganzes We&#x017F;en &#x2014; aber allen Spra¬<lb/>
chen und allen Herzen und allen Gefu&#x0364;hlen entfa&#x0364;llt<lb/>
vor ihm die Zunge und Beten i&#x017F;t Ver&#x017F;tummen,<lb/>
nicht bloß mit den Lippen, auch mit dem <choice><sic>Gedan¬<lb/>
danken</sic><corr>Gedan¬<lb/>
ken</corr></choice> . . . . Aber der große Gei&#x017F;t, der die Schwa&#x0364;¬<lb/>
che des guten Men&#x017F;chen kennt, hat ihm Mitbru&#x0364;¬<lb/>
der herabge&#x017F;andt, damit der Men&#x017F;ch &#x017F;ich vor dem<lb/>
Men&#x017F;chen o&#x0364;fne und vor ihnen das Gebet, in dem<lb/>
er ver&#x017F;tummte, vollende. &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
            <p>O Freund meiner &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Jahre! der du<lb/>
Dankbarkeit und Demuth in meinem Inner&#x017F;ten be¬<lb/>
fe&#x017F;tigt ha&#x017F;t, die&#x017F;e hab&#x2019; ich gefu&#x0364;hlt als ich auf dem<lb/>
Eremitenberg mich ein&#x017F;am u&#x0364;ber das ge&#x017F;chaffne Ge¬<lb/>
wu&#x0364;rm erhob und fu&#x0364;hlte, was der Men&#x017F;ch fu&#x0364;hlt<lb/>
aber nur er auf der Erde &#x2014; als ich ein&#x017F;am vor<lb/>
dem bis ins Nichts hinausreichenden großen Spie¬<lb/>
gel, an den &#x017F;ich das In&#x017F;ekt mit Fu&#x0364;hlho&#x0364;rnern &#x017F;to&#x0364;&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;et, mit Men&#x017F;chenaugen knien konnte, vor dem<lb/>
Spiegel, aus dem der unendliche Sonnen-Rie&#x017F;e<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[II/0021] ſtand hier einſam in einer weiten Stille — ich wand¬ te mich zur heruntergegangnen Sonne, ich dachte daran, daß ich ſie einmal fuͤr Gott gehalten, und es fiel heute ſchwer auf mich, daß ich den, ders war, bisher ſo ſelten gedacht — „o Du, Du!” rief ſo nahe an ihm mein ganzes Weſen — aber allen Spra¬ chen und allen Herzen und allen Gefuͤhlen entfaͤllt vor ihm die Zunge und Beten iſt Verſtummen, nicht bloß mit den Lippen, auch mit dem Gedan¬ ken . . . . Aber der große Geiſt, der die Schwaͤ¬ che des guten Menſchen kennt, hat ihm Mitbruͤ¬ der herabgeſandt, damit der Menſch ſich vor dem Menſchen oͤfne und vor ihnen das Gebet, in dem er verſtummte, vollende. — — O Freund meiner ſchoͤnſten Jahre! der du Dankbarkeit und Demuth in meinem Innerſten be¬ feſtigt haſt, dieſe hab’ ich gefuͤhlt als ich auf dem Eremitenberg mich einſam uͤber das geſchaffne Ge¬ wuͤrm erhob und fuͤhlte, was der Menſch fuͤhlt aber nur er auf der Erde — als ich einſam vor dem bis ins Nichts hinausreichenden großen Spie¬ gel, an den ſich das Inſekt mit Fuͤhlhoͤrnern ſtoͤſ¬ ſet, mit Menſchenaugen knien konnte, vor dem Spiegel, aus dem der unendliche Sonnen-Rieſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/21
Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. II. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/21>, abgerufen am 27.04.2024.