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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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Todtenkranz des Säuglings mit falschen Blumen
hatte den armen Säugling hieher begleitet, dem
der Tod die Hand abgebrochen, eh' sie wahre hal¬
ten konnte -- steinerne Mönche und Ritter mach¬
ten das längst verstummte Gebet an der Mauer
mit verwitternden Händen nach -- nichts lebendi¬
ges redete in der Kirche als der eiserne Gang des
Perpendikels der Thurmuhr und mir war als hört'
ich wie die Zeit mit schweren Füßen über die Welt
schritt und Gräber austrat als Fußstapfen. . .

Ich setzte mich auf eine Altarstufe, um mich
lag das Mondlicht mit trübenden eilenden Wolken¬
schatten; mein Geist stand hoch: ich redete das
ich an, das ich noch war: "was bist du? was
sitzt hier und erinnert sich und hat Quaal: -- du,
ich, etwas -- wo ist denn das hin, das gefärbte
Gewölk, das seit dreißig Jahren an diesem Ich
vorüber zog und das ich Kindheit, Jugend, Le¬
ben hieß? -- mein Ich zog durch diesen bemahl¬
ten Nebel hindurch -- ich kont' ihn aber nicht
erfassen -- weit von mir schien er etwas festes, an
mir versikernde Dufttropfen oder sogenannte Au¬
genblicke -- Leben heißet also von einem Augen¬
blick, (diesem Dunstkügelchen der Zeit,) in den

Todtenkranz des Saͤuglings mit falſchen Blumen
hatte den armen Saͤugling hieher begleitet, dem
der Tod die Hand abgebrochen‚ eh' ſie wahre hal¬
ten konnte — ſteinerne Moͤnche und Ritter mach¬
ten das laͤngſt verſtummte Gebet an der Mauer
mit verwitternden Haͤnden nach — nichts lebendi¬
ges redete in der Kirche als der eiſerne Gang des
Perpendikels der Thurmuhr und mir war als hoͤrt'
ich wie die Zeit mit ſchweren Fuͤßen uͤber die Welt
ſchritt und Graͤber austrat als Fußſtapfen. . .

Ich ſetzte mich auf eine Altarſtufe‚ um mich
lag das Mondlicht mit truͤbenden eilenden Wolken¬
ſchatten; mein Geiſt ſtand hoch: ich redete das
ich an‚ das ich noch war: „was biſt du? was
ſitzt hier und erinnert ſich und hat Quaal: — du‚
ich‚ etwas — wo iſt denn das hin‚ das gefaͤrbte
Gewoͤlk‚ das ſeit dreißig Jahren an dieſem Ich
voruͤber zog und das ich Kindheit‚ Jugend‚ Le¬
ben hieß? — mein Ich zog durch dieſen bemahl¬
ten Nebel hindurch — ich kont' ihn aber nicht
erfaſſen — weit von mir ſchien er etwas feſtes, an
mir verſikernde Dufttropfen oder ſogenannte Au¬
genblicke — Leben heißet alſo von einem Augen¬
blick, (dieſem Dunſtkuͤgelchen der Zeit,) in den

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[140/0150] Todtenkranz des Saͤuglings mit falſchen Blumen hatte den armen Saͤugling hieher begleitet, dem der Tod die Hand abgebrochen‚ eh' ſie wahre hal¬ ten konnte — ſteinerne Moͤnche und Ritter mach¬ ten das laͤngſt verſtummte Gebet an der Mauer mit verwitternden Haͤnden nach — nichts lebendi¬ ges redete in der Kirche als der eiſerne Gang des Perpendikels der Thurmuhr und mir war als hoͤrt' ich wie die Zeit mit ſchweren Fuͤßen uͤber die Welt ſchritt und Graͤber austrat als Fußſtapfen. . . Ich ſetzte mich auf eine Altarſtufe‚ um mich lag das Mondlicht mit truͤbenden eilenden Wolken¬ ſchatten; mein Geiſt ſtand hoch: ich redete das ich an‚ das ich noch war: „was biſt du? was ſitzt hier und erinnert ſich und hat Quaal: — du‚ ich‚ etwas — wo iſt denn das hin‚ das gefaͤrbte Gewoͤlk‚ das ſeit dreißig Jahren an dieſem Ich voruͤber zog und das ich Kindheit‚ Jugend‚ Le¬ ben hieß? — mein Ich zog durch dieſen bemahl¬ ten Nebel hindurch — ich kont' ihn aber nicht erfaſſen — weit von mir ſchien er etwas feſtes, an mir verſikernde Dufttropfen oder ſogenannte Au¬ genblicke — Leben heißet alſo von einem Augen¬ blick, (dieſem Dunſtkuͤgelchen der Zeit,) in den

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/150>, abgerufen am 02.05.2024.