Mit der hohen Fluth der Traurigkeit entschuldi¬ ge man es, daß Gustav, der bisher immer die Pa¬ roxismen seiner Empfindungen zum Besten des an¬ dern versteckte, sie hier auf Kosten eines andern her¬ vorbrechen ließ. Sein Schmerz gieng so weit, daß er vom Vater den Altagsrock und Hut des Seligen statt seines Kniestückes begehrte: er fühlte wie ich, daß Altagskleider die besten Schattenrisse, Gipsab¬ güsse und Pasten eines Menschen sind, den man lieb gehabt und der aus ihnen und den Körper heraus ist. -- Die Antwort des Doktors lautet so:
"Ich habe mich oft an die Polster meines medi¬ zinischen Wagens gelehnt und mir vorgestellt und vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen und Kopfhaare oder gar keine mehr habe -- wenn mir alle Jahrszeiten immer kürzer und alle Nächte darin immer länger vorkommen, welches vor der Annähe¬ rung der längsten vorausgeht -- wenn ich dann in den ersten Frühlingstage ins stille Land hinausgehe um meinen kalten interpolirten Körper zu sonnen -- wenn ich dann aussen die klebenden treiberden Knos¬ pen sehe, unter denen ein ganzer Sommer steckt, und in mir innen das ewige Abblättern und Umbeu¬
Mit der hohen Fluth der Traurigkeit entſchuldi¬ ge man es, daß Guſtav, der bisher immer die Pa¬ roxiſmen ſeiner Empfindungen zum Beſten des an¬ dern verſteckte, ſie hier auf Koſten eines andern her¬ vorbrechen ließ. Sein Schmerz gieng ſo weit, daß er vom Vater den Altagsrock und Hut des Seligen ſtatt ſeines Knieſtuͤckes begehrte: er fuͤhlte wie ich, daß Altagskleider die beſten Schattenriſſe, Gipsab¬ guͤſſe und Paſten eines Menſchen ſind, den man lieb gehabt und der aus ihnen und den Koͤrper heraus iſt. — Die Antwort des Doktors lautet ſo:
„Ich habe mich oft an die Polſter meines medi¬ ziniſchen Wagens gelehnt und mir vorgeſtellt und vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen und Kopfhaare oder gar keine mehr habe — wenn mir alle Jahrszeiten immer kuͤrzer und alle Naͤchte darin immer laͤnger vorkommen, welches vor der Annaͤhe¬ rung der laͤngſten vorausgeht — wenn ich dann in den erſten Fruͤhlingstage ins ſtille Land hinausgehe um meinen kalten interpolirten Koͤrper zu ſonnen — wenn ich dann auſſen die klebenden treiberden Knoſ¬ pen ſehe, unter denen ein ganzer Sommer ſteckt, und in mir innen das ewige Abblaͤttern und Umbeu¬
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Mit der hohen Fluth der Traurigkeit entſchuldi¬
ge man es, daß Guſtav, der bisher immer die Pa¬
roxiſmen ſeiner Empfindungen zum Beſten des an¬
dern verſteckte, ſie hier auf Koſten eines andern her¬
vorbrechen ließ. Sein Schmerz gieng ſo weit, daß
er vom Vater den Altagsrock und Hut des Seligen
ſtatt ſeines Knieſtuͤckes begehrte: er fuͤhlte wie ich,
daß Altagskleider die beſten Schattenriſſe, Gipsab¬
guͤſſe und Paſten eines Menſchen ſind, den man lieb
gehabt und der aus ihnen und den Koͤrper heraus iſt.
— Die Antwort des Doktors lautet ſo:
„Ich habe mich oft an die Polſter meines medi¬
ziniſchen Wagens gelehnt und mir vorgeſtellt und
vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen
und Kopfhaare oder gar keine mehr habe — wenn mir
alle Jahrszeiten immer kuͤrzer und alle Naͤchte darin
immer laͤnger vorkommen, welches vor der Annaͤhe¬
rung der laͤngſten vorausgeht — wenn ich dann in
den erſten Fruͤhlingstage ins ſtille Land hinausgehe
um meinen kalten interpolirten Koͤrper zu ſonnen —
wenn ich dann auſſen die klebenden treiberden Knoſ¬
pen ſehe, unter denen ein ganzer Sommer ſteckt,
und in mir innen das ewige Abblaͤttern und Umbeu¬
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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/114>, abgerufen am 02.05.2024.
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