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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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(und mir darzu) ins Schach hineingefahren: denn
was hätt' ich da geliebt als strenge Selbstbüßung?

Beinahe hätte am 16. Junius Ernestine diese
Büßung geliebt, wie man aus ihrem Briefe so¬
gleich ersehen soll. Denn allerdings ist eine Frau
im Stande, zweimal 24 Stunden lang eine und
dieselbe Gesinnung gegen einen Mann (aber auch
gegen weiter nichts) zu behaupten, sobald sie von
diesem Manne nichts vor sich hat als sein Bild in
ihrem schönen Köpfgen; allein, steht der Mann sel¬
ber unkopirt 6 Fuß hoch vor ihr: so prästirt sie es
nicht mehr -- ihre wie eine besonnete Mückenkolon¬
ne spielende Empfindung treibt aus einander, wi¬
der einander und in einander[...] ein Fingerhut voll
Puder am besagten Mann zuviel oder zu wenig --
eine Beugung seines Oberleibs -- ein zu tief abge¬
schnittener Fingernagel -- eine sich abschälende schur¬
fichte Unterlippe -- der Puder-Anschrot und Spiel¬
raum des Zopfs hinten auf dem Rock -- ein langer
Backenbart -- alles. Aus hundert Gründen schlag'
ich hier vor den Augen des indiskreten Lesers Erne¬
stinens Brief an eine ausgediente Hofdame in
der Residenzstadt Scheerau aus einander: sie
mußte jede Woche an sie schreiben, weil man sie zu

(und mir darzu) ins Schach hineingefahren: denn
was haͤtt' ich da geliebt als ſtrenge Selbſtbuͤßung?

Beinahe haͤtte am 16. Junius Erneſtine dieſe
Buͤßung geliebt, wie man aus ihrem Briefe ſo¬
gleich erſehen ſoll. Denn allerdings iſt eine Frau
im Stande, zweimal 24 Stunden lang eine und
dieſelbe Geſinnung gegen einen Mann (aber auch
gegen weiter nichts) zu behaupten, ſobald ſie von
dieſem Manne nichts vor ſich hat als ſein Bild in
ihrem ſchoͤnen Koͤpfgen; allein, ſteht der Mann ſel¬
ber unkopirt 6 Fuß hoch vor ihr: ſo praͤſtirt ſie es
nicht mehr — ihre wie eine beſonnete Muͤckenkolon¬
ne ſpielende Empfindung treibt aus einander, wi¬
der einander und in einander[…] ein Fingerhut voll
Puder am beſagten Mann zuviel oder zu wenig —
eine Beugung ſeines Oberleibs — ein zu tief abge¬
ſchnittener Fingernagel — eine ſich abſchaͤlende ſchur¬
fichte Unterlippe — der Puder-Anſchrot und Spiel¬
raum des Zopfs hinten auf dem Rock — ein langer
Backenbart — alles. Aus hundert Gruͤnden ſchlag'
ich hier vor den Augen des indiſkreten Leſers Erne¬
ſtinens Brief an eine ausgediente Hofdame in
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[10/0046] (und mir darzu) ins Schach hineingefahren: denn was haͤtt' ich da geliebt als ſtrenge Selbſtbuͤßung? Beinahe haͤtte am 16. Junius Erneſtine dieſe Buͤßung geliebt, wie man aus ihrem Briefe ſo¬ gleich erſehen ſoll. Denn allerdings iſt eine Frau im Stande, zweimal 24 Stunden lang eine und dieſelbe Geſinnung gegen einen Mann (aber auch gegen weiter nichts) zu behaupten, ſobald ſie von dieſem Manne nichts vor ſich hat als ſein Bild in ihrem ſchoͤnen Koͤpfgen; allein, ſteht der Mann ſel¬ ber unkopirt 6 Fuß hoch vor ihr: ſo praͤſtirt ſie es nicht mehr — ihre wie eine beſonnete Muͤckenkolon¬ ne ſpielende Empfindung treibt aus einander, wi¬ der einander und in einander ein Fingerhut voll Puder am beſagten Mann zuviel oder zu wenig — eine Beugung ſeines Oberleibs — ein zu tief abge¬ ſchnittener Fingernagel — eine ſich abſchaͤlende ſchur¬ fichte Unterlippe — der Puder-Anſchrot und Spiel¬ raum des Zopfs hinten auf dem Rock — ein langer Backenbart — alles. Aus hundert Gruͤnden ſchlag' ich hier vor den Augen des indiſkreten Leſers Erne¬ ſtinens Brief an eine ausgediente Hofdame in der Reſidenzſtadt Scheerau aus einander: ſie mußte jede Woche an ſie ſchreiben, weil man ſie zu

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/46>, abgerufen am 28.03.2024.