Es giebt gewisse Regeln und Mittel der Men¬ schenkenntniß, die der bessere höhere Mensch ver¬ schmäht und verdammt, und die gerade diesen nicht errathen helfen und die ihn weder belehren noch er¬ forschen. -- Der Professor rieth noch meinem Gu¬ stav, sein Gesicht zu formen, Tugend auf demselben zu silhouettiren, es vor dem Spiegel auszuplätten und es mit keinen heftigen Regungen zu zerknüllen. Ich weiß es selber, für Weltleute ist der Spiegel noch das einzige Gewissen, das ihnen ihre Fehler vor¬ hält und das man wie das Gehirn ins große und klei¬ ne eintheilen muß: das große Gewissen sind Wand- und Pfeilerspiegel, das kleine steckt in Etuis und wird als Taschenspiegel herausgezogen; für die Welt¬ leute; aber für dich, Gustav? -- du, der du den obigen Dekalogus für Spitzbuben nicht annehmen, nicht einmal verstehen oder nützen kannst -- denn man nützt und versteht nur solche Lebensregeln, von denen man die Erfahrungen, worauf sie ruhen, so durchgemacht, daß man die Regeln hätte selber ge¬ ben können -- du, den ich gelehrt, daß Tugend nichts sei als Achtung für das fremde und für un¬ ser Ich, daß es besser sei an keine Laster als an keine Tugend zu glauben, daß die Schlimmsten nur ihre
Es giebt gewiſſe Regeln und Mittel der Men¬ ſchenkenntniß, die der beſſere hoͤhere Menſch ver¬ ſchmaͤht und verdammt, und die gerade dieſen nicht errathen helfen und die ihn weder belehren noch er¬ forſchen. — Der Profeſſor rieth noch meinem Gu¬ ſtav, ſein Geſicht zu formen, Tugend auf demſelben zu ſilhouettiren, es vor dem Spiegel auszuplaͤtten und es mit keinen heftigen Regungen zu zerknuͤllen. Ich weiß es ſelber, fuͤr Weltleute iſt der Spiegel noch das einzige Gewiſſen, das ihnen ihre Fehler vor¬ haͤlt und das man wie das Gehirn ins große und klei¬ ne eintheilen muß: das große Gewiſſen ſind Wand- und Pfeilerſpiegel, das kleine ſteckt in Etuis und wird als Taſchenſpiegel herausgezogen; fuͤr die Welt¬ leute; aber fuͤr dich, Guſtav? — du, der du den obigen Dekalogus fuͤr Spitzbuben nicht annehmen, nicht einmal verſtehen oder nuͤtzen kannſt — denn man nuͤtzt und verſteht nur ſolche Lebensregeln, von denen man die Erfahrungen, worauf ſie ruhen, ſo durchgemacht, daß man die Regeln haͤtte ſelber ge¬ ben koͤnnen — du, den ich gelehrt, daß Tugend nichts ſei als Achtung fuͤr das fremde und fuͤr un¬ ſer Ich, daß es beſſer ſei an keine Laſter als an keine Tugend zu glauben, daß die Schlimmſten nur ihre
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Es giebt gewiſſe Regeln und Mittel der Men¬
ſchenkenntniß, die der beſſere hoͤhere Menſch ver¬
ſchmaͤht und verdammt, und die gerade dieſen nicht
errathen helfen und die ihn weder belehren noch er¬
forſchen. — Der Profeſſor rieth noch meinem Gu¬
ſtav, ſein Geſicht zu formen, Tugend auf demſelben
zu ſilhouettiren, es vor dem Spiegel auszuplaͤtten
und es mit keinen heftigen Regungen zu zerknuͤllen.
Ich weiß es ſelber, fuͤr Weltleute iſt der Spiegel
noch das einzige Gewiſſen, das ihnen ihre Fehler vor¬
haͤlt und das man wie das Gehirn ins große und klei¬
ne eintheilen muß: das große Gewiſſen ſind Wand-
und Pfeilerſpiegel, das kleine ſteckt in Etuis und
wird als Taſchenſpiegel herausgezogen; fuͤr die Welt¬
leute; aber fuͤr dich, Guſtav? — du, der du den
obigen Dekalogus fuͤr Spitzbuben nicht annehmen,
nicht einmal verſtehen oder nuͤtzen kannſt — denn
man nuͤtzt und verſteht nur ſolche Lebensregeln, von
denen man die Erfahrungen, worauf ſie ruhen, ſo
durchgemacht, daß man die Regeln haͤtte ſelber ge¬
ben koͤnnen — du, den ich gelehrt, daß Tugend
nichts ſei als Achtung fuͤr das fremde und fuͤr un¬
ſer Ich, daß es beſſer ſei an keine Laſter als an keine
Tugend zu glauben, daß die Schlimmſten nur ihre
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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/321>, abgerufen am 22.11.2024.
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