de war sein Mond: jetzt errieth er erst die Seele seines Dahore. . . .
-- Und du, mein Leser, fühlest du nicht, du würdest dich so nahe vor der Klosterpforte des Todes eben so veredeln? Aber ich und du stehen ja schon davor: ist unser Tod nicht so gewiß als Viktors seiner, wiewol in einem längern Zwischenraum? O wenn jeder nur gewiß glaubte, nach 50 Jahren an einem bestimmten Tage führte ihn die Natur auf ihren Richtplatz: er wär' anders; aber wir alle wer¬ fen das Bild des Todes aus unserer Seele wie die Schlesier es am Lätare-Sonntag aus den Städten werfen. Der Gedanke und die Erwartung des To¬ des bessern so sehr als die Gewißheit und Wahl des¬ selben.
Jetzt zogen die schönen blauen Nachsommertage des heurigen Oktobers auf zarten Phalänenflügeln von Spinnengeweben über den Himmel. Viktor sagte zu sich: "schöner Erdenhimmel, ich will noch "einmal unter dir wandeln! gutes Mutterland, ich "will dich noch einmal mit deinen Bergen und Wäl¬ "dern überschauen und dein Bild in die unsterbliche "Seele heften, eh' dein gelbes Grün mein Herz "überwächset und darin einwurzelt, -- ich will dich "sehen, St. Lüne meiner Kindheit, und meine schön¬ "nen Pfingstwege, und dich du seeliges Maienthal,
de war ſein Mond: jetzt errieth er erſt die Seele ſeines Dahore. . . .
— Und du, mein Leſer, fuͤhleſt du nicht, du wuͤrdeſt dich ſo nahe vor der Kloſterpforte des Todes eben ſo veredeln? Aber ich und du ſtehen ja ſchon davor: iſt unſer Tod nicht ſo gewiß als Viktors ſeiner, wiewol in einem laͤngern Zwiſchenraum? O wenn jeder nur gewiß glaubte, nach 50 Jahren an einem beſtimmten Tage fuͤhrte ihn die Natur auf ihren Richtplatz: er waͤr' anders; aber wir alle wer¬ fen das Bild des Todes aus unſerer Seele wie die Schleſier es am Laͤtare-Sonntag aus den Staͤdten werfen. Der Gedanke und die Erwartung des To¬ des beſſern ſo ſehr als die Gewißheit und Wahl deſ¬ ſelben.
Jetzt zogen die ſchoͤnen blauen Nachſommertage des heurigen Oktobers auf zarten Phalaͤnenfluͤgeln von Spinnengeweben uͤber den Himmel. Viktor ſagte zu ſich: »ſchoͤner Erdenhimmel, ich will noch »einmal unter dir wandeln! gutes Mutterland, ich »will dich noch einmal mit deinen Bergen und Waͤl¬ »dern uͤberſchauen und dein Bild in die unſterbliche »Seele heften, eh' dein gelbes Gruͤn mein Herz »uͤberwaͤchſet und darin einwurzelt, — ich will dich »ſehen, St. Luͤne meiner Kindheit, und meine ſchoͤn¬ »nen Pfingſtwege, und dich du ſeeliges Maienthal,
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de war ſein Mond: jetzt errieth er erſt die Seele
ſeines Dahore. . . .
— Und du, mein Leſer, fuͤhleſt du nicht, du
wuͤrdeſt dich ſo nahe vor der Kloſterpforte des Todes
eben ſo veredeln? Aber ich und du ſtehen ja ſchon
davor: iſt unſer Tod nicht ſo gewiß als Viktors
ſeiner, wiewol in einem laͤngern Zwiſchenraum? O
wenn jeder nur gewiß glaubte, nach 50 Jahren an
einem beſtimmten Tage fuͤhrte ihn die Natur auf
ihren Richtplatz: er waͤr' anders; aber wir alle wer¬
fen das Bild des Todes aus unſerer Seele wie die
Schleſier es am Laͤtare-Sonntag aus den Staͤdten
werfen. Der Gedanke und die Erwartung des To¬
des beſſern ſo ſehr als die Gewißheit und Wahl deſ¬
ſelben.
Jetzt zogen die ſchoͤnen blauen Nachſommertage
des heurigen Oktobers auf zarten Phalaͤnenfluͤgeln
von Spinnengeweben uͤber den Himmel. Viktor
ſagte zu ſich: »ſchoͤner Erdenhimmel, ich will noch
»einmal unter dir wandeln! gutes Mutterland, ich
»will dich noch einmal mit deinen Bergen und Waͤl¬
»dern uͤberſchauen und dein Bild in die unſterbliche
»Seele heften, eh' dein gelbes Gruͤn mein Herz
»uͤberwaͤchſet und darin einwurzelt, — ich will dich
»ſehen, St. Luͤne meiner Kindheit, und meine ſchoͤn¬
»nen Pfingſtwege, und dich du ſeeliges Maienthal,
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/374>, abgerufen am 23.11.2024.
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