Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

immer hört' er das tolle Todtengebein in seine Oh¬
ren sagen: "seine Augen sind raus!"

In der schwülen Stille, wo die Sonne die Mi¬
nirgänge des Donners grub und lud, und wo die
zwei Freunde vor den Ohren des blinden Julius nur
mit Blicken von der heutigen Zukunft reden durften,
stand gegen 4 Uhr ein fächelnder Abendwind auf, der
alle hängende Flügel und Häupter erfrischte. Ema¬
nuel ließ diese kühlen Wogen herein, die -- einwie¬
gend und beruhigend über die gebückten Blumen am
Fenster liefen und an den schwankenden Falten der
Vorhänge niederflossen und verirrt durch das duften¬
de Laubwerk des Zimmers plätscherten. Da kam ei¬
ne unendliche Stille, eine auflösende Wonne, ein
unaussprechliches Sehnen in Emanuels Herz. Seine
Kindheitsfreuden -- die Züge seiner Mutter -- die
Bilder indischer Gefilde -- alle geliebte verstäubte
Gestalten -- Der ganze gleitende Wiederschein des
Jugendmorgens floß vor ihm glimmend vorüber --
Eine wehmüthige Sehnsucht nach seinem Vaterland,
nach seinen gestorbnen Menschen dehnte seinen Bu¬
sen mit süßen Beklemmungen aus -- Dieses immer¬
grüne Palmenlaub der Jugenderinnerung legte er als
kühlendes Kraut um seine und Horions Stirne und
den ganzen ersten Kreiß seines Daseyns trug er aus
dem indischen Eden in dieses enge Gehäuse vor sei¬
ne zwei letzten Geliebten herüber. Aber da er so

immer hoͤrt' er das tolle Todtengebein in ſeine Oh¬
ren ſagen: »ſeine Augen ſind raus!»

In der ſchwuͤlen Stille‚ wo die Sonne die Mi¬
nirgaͤnge des Donners grub und lud, und wo die
zwei Freunde vor den Ohren des blinden Julius nur
mit Blicken von der heutigen Zukunft reden durften‚
ſtand gegen 4 Uhr ein faͤchelnder Abendwind auf‚ der
alle haͤngende Fluͤgel und Haͤupter erfriſchte. Ema¬
nuel ließ dieſe kuͤhlen Wogen herein‚ die — einwie¬
gend und beruhigend uͤber die gebuͤckten Blumen am
Fenſter liefen und an den ſchwankenden Falten der
Vorhaͤnge niederfloſſen und verirrt durch das duften¬
de Laubwerk des Zimmers plaͤtſcherten. Da kam ei¬
ne unendliche Stille‚ eine aufloͤſende Wonne, ein
unausſprechliches Sehnen in Emanuels Herz. Seine
Kindheitsfreuden — die Zuͤge ſeiner Mutter — die
Bilder indiſcher Gefilde — alle geliebte verſtaͤubte
Geſtalten — Der ganze gleitende Wiederſchein des
Jugendmorgens floß vor ihm glimmend voruͤber —
Eine wehmuͤthige Sehnſucht nach ſeinem Vaterland,
nach ſeinen geſtorbnen Menſchen dehnte ſeinen Bu¬
ſen mit ſuͤßen Beklemmungen aus — Dieſes immer¬
gruͤne Palmenlaub der Jugenderinnerung legte er als
kuͤhlendes Kraut um ſeine und Horions Stirne und
den ganzen erſten Kreiß ſeines Daſeyns trug er aus
dem indiſchen Eden in dieſes enge Gehaͤuſe vor ſei¬
ne zwei letzten Geliebten heruͤber. Aber da er ſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0274" n="264"/>
immer ho&#x0364;rt' er das tolle Todtengebein in &#x017F;eine Oh¬<lb/>
ren &#x017F;agen: »&#x017F;eine Augen &#x017F;ind raus!»</p><lb/>
            <p>In der &#x017F;chwu&#x0364;len Stille&#x201A; wo die Sonne die Mi¬<lb/>
nirga&#x0364;nge des Donners grub und lud, und wo die<lb/>
zwei Freunde vor den Ohren des blinden Julius nur<lb/>
mit Blicken von der heutigen Zukunft reden durften&#x201A;<lb/>
&#x017F;tand gegen 4 Uhr ein fa&#x0364;chelnder Abendwind auf&#x201A; der<lb/>
alle ha&#x0364;ngende Flu&#x0364;gel und Ha&#x0364;upter erfri&#x017F;chte. Ema¬<lb/>
nuel ließ die&#x017F;e ku&#x0364;hlen Wogen herein&#x201A; die &#x2014; einwie¬<lb/>
gend und beruhigend u&#x0364;ber die gebu&#x0364;ckten Blumen am<lb/>
Fen&#x017F;ter liefen und an den &#x017F;chwankenden Falten der<lb/>
Vorha&#x0364;nge niederflo&#x017F;&#x017F;en und verirrt durch das duften¬<lb/>
de Laubwerk des Zimmers pla&#x0364;t&#x017F;cherten. Da kam ei¬<lb/>
ne unendliche Stille&#x201A; eine auflo&#x0364;&#x017F;ende Wonne, ein<lb/>
unaus&#x017F;prechliches Sehnen in Emanuels Herz. Seine<lb/>
Kindheitsfreuden &#x2014; die Zu&#x0364;ge &#x017F;einer Mutter &#x2014; die<lb/>
Bilder indi&#x017F;cher Gefilde &#x2014; alle geliebte ver&#x017F;ta&#x0364;ubte<lb/>
Ge&#x017F;talten &#x2014; Der ganze gleitende Wieder&#x017F;chein des<lb/>
Jugendmorgens floß vor ihm glimmend voru&#x0364;ber &#x2014;<lb/>
Eine wehmu&#x0364;thige Sehn&#x017F;ucht nach &#x017F;einem Vaterland,<lb/>
nach &#x017F;einen ge&#x017F;torbnen Men&#x017F;chen dehnte &#x017F;einen Bu¬<lb/>
&#x017F;en mit &#x017F;u&#x0364;ßen Beklemmungen aus &#x2014; Die&#x017F;es immer¬<lb/>
gru&#x0364;ne Palmenlaub der Jugenderinnerung legte er als<lb/>
ku&#x0364;hlendes Kraut um &#x017F;eine und Horions Stirne und<lb/>
den ganzen er&#x017F;ten Kreiß &#x017F;eines Da&#x017F;eyns trug er aus<lb/>
dem indi&#x017F;chen Eden in die&#x017F;es enge Geha&#x0364;u&#x017F;e vor &#x017F;ei¬<lb/>
ne zwei letzten Geliebten heru&#x0364;ber. Aber da er &#x017F;o<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[264/0274] immer hoͤrt' er das tolle Todtengebein in ſeine Oh¬ ren ſagen: »ſeine Augen ſind raus!» In der ſchwuͤlen Stille‚ wo die Sonne die Mi¬ nirgaͤnge des Donners grub und lud, und wo die zwei Freunde vor den Ohren des blinden Julius nur mit Blicken von der heutigen Zukunft reden durften‚ ſtand gegen 4 Uhr ein faͤchelnder Abendwind auf‚ der alle haͤngende Fluͤgel und Haͤupter erfriſchte. Ema¬ nuel ließ dieſe kuͤhlen Wogen herein‚ die — einwie¬ gend und beruhigend uͤber die gebuͤckten Blumen am Fenſter liefen und an den ſchwankenden Falten der Vorhaͤnge niederfloſſen und verirrt durch das duften¬ de Laubwerk des Zimmers plaͤtſcherten. Da kam ei¬ ne unendliche Stille‚ eine aufloͤſende Wonne, ein unausſprechliches Sehnen in Emanuels Herz. Seine Kindheitsfreuden — die Zuͤge ſeiner Mutter — die Bilder indiſcher Gefilde — alle geliebte verſtaͤubte Geſtalten — Der ganze gleitende Wiederſchein des Jugendmorgens floß vor ihm glimmend voruͤber — Eine wehmuͤthige Sehnſucht nach ſeinem Vaterland, nach ſeinen geſtorbnen Menſchen dehnte ſeinen Bu¬ ſen mit ſuͤßen Beklemmungen aus — Dieſes immer¬ gruͤne Palmenlaub der Jugenderinnerung legte er als kuͤhlendes Kraut um ſeine und Horions Stirne und den ganzen erſten Kreiß ſeines Daſeyns trug er aus dem indiſchen Eden in dieſes enge Gehaͤuſe vor ſei¬ ne zwei letzten Geliebten heruͤber. Aber da er ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/274
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/274>, abgerufen am 19.05.2024.