sie mehr ungebunden als frei. Je mehr die Ge¬ genstände ihrer Gesetze sich veredeln, desto mehr sehen sie, daß das Gesetz den innern Menschen mehr angehe als der Schuthaufen, den es beschirmt, das Recht mehr als das Eigenthum und daß der edle Mensch seine Güter, seine Gerechsame, sein Leben verfechte, nicht wegen ihrer Wichtigkeit, sondern we¬ gen seiner Würde. -- Ich will die Sache von einer andern Seite beschauen, um den Satz zu vertheidi¬ gen, womit ich die Rede anfing. Wenn ein Volk seine Verfassung hasset: so geht der Zweck seiner Verfassung d. h. seiner Vereinigung verloren. Liebe der Verfassung und Liebe für seine Mitbürger als Mitbürger ist eins. Ich hole so aus: Wären alle Menschen weise und gut: so wärrn sie alle einander ähnlich, folglich gewogen. Da das nicht ist: so er¬ setzt die Natur diese Güte durch Surrogate der Aehnlichkeit, z. B. durch Gemeinschaft des Zwecks, durch Beisammenleben u. s. w. und hält durch diese Bänder -- der ehelichen, der Geschwister, und der Freundesliebe -- unsere glatten schlüpferigen Herzen zusammen in verschiedenen Entfernungen. So erzieht sie unser Herz zur höheren Wärme. Der Staat giebt ihm eine noch größere, denn der Bürger liebt schon mehr den Menschen im Bürger als der Bru¬ der im Bruder, der Vater im Sohn. Vaterlands¬ liebe ist nichts als ein eingeschränkter Kosmopolitis¬
mus;
ſie mehr ungebunden als frei. Je mehr die Ge¬ genſtaͤnde ihrer Geſetze ſich veredeln, deſto mehr ſehen ſie, daß das Geſetz den innern Menſchen mehr angehe als der Schuthaufen, den es beſchirmt, das Recht mehr als das Eigenthum und daß der edle Menſch ſeine Guͤter, ſeine Gerechſame, ſein Leben verfechte, nicht wegen ihrer Wichtigkeit, ſondern we¬ gen ſeiner Wuͤrde. — Ich will die Sache von einer andern Seite beſchauen, um den Satz zu vertheidi¬ gen, womit ich die Rede anfing. Wenn ein Volk ſeine Verfaſſung haſſet: ſo geht der Zweck ſeiner Verfaſſung d. h. ſeiner Vereinigung verloren. Liebe der Verfaſſung und Liebe fuͤr ſeine Mitbuͤrger als Mitbuͤrger iſt eins. Ich hole ſo aus: Waͤren alle Menſchen weiſe und gut: ſo waͤrrn ſie alle einander aͤhnlich, folglich gewogen. Da das nicht iſt: ſo er¬ ſetzt die Natur dieſe Guͤte durch Surrogate der Aehnlichkeit, z. B. durch Gemeinſchaft des Zwecks, durch Beiſammenleben u. ſ. w. und haͤlt durch dieſe Baͤnder — der ehelichen, der Geſchwiſter, und der Freundesliebe — unſere glatten ſchluͤpferigen Herzen zuſammen in verſchiedenen Entfernungen. So erzieht ſie unſer Herz zur hoͤheren Waͤrme. Der Staat giebt ihm eine noch groͤßere, denn der Buͤrger liebt ſchon mehr den Menſchen im Buͤrger als der Bru¬ der im Bruder, der Vater im Sohn. Vaterlands¬ liebe iſt nichts als ein eingeſchraͤnkter Kosmopolitis¬
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ſie mehr ungebunden als frei. Je mehr die Ge¬
genſtaͤnde ihrer Geſetze ſich veredeln, deſto mehr
ſehen ſie, daß das Geſetz den innern Menſchen mehr
angehe als der Schuthaufen, den es beſchirmt, das
Recht mehr als das Eigenthum und daß der edle
Menſch ſeine Guͤter, ſeine Gerechſame, ſein Leben
verfechte, nicht wegen ihrer Wichtigkeit, ſondern we¬
gen ſeiner Wuͤrde. — Ich will die Sache von einer
andern Seite beſchauen, um den Satz zu vertheidi¬
gen, womit ich die Rede anfing. Wenn ein Volk
ſeine Verfaſſung haſſet: ſo geht der Zweck ſeiner
Verfaſſung d. h. ſeiner Vereinigung verloren. Liebe
der Verfaſſung und Liebe fuͤr ſeine Mitbuͤrger als
Mitbuͤrger iſt eins. Ich hole ſo aus: Waͤren alle
Menſchen weiſe und gut: ſo waͤrrn ſie alle einander
aͤhnlich, folglich gewogen. Da das nicht iſt: ſo er¬
ſetzt die Natur dieſe Guͤte durch Surrogate der
Aehnlichkeit, z. B. durch Gemeinſchaft des Zwecks,
durch Beiſammenleben u. ſ. w. und haͤlt durch dieſe
Baͤnder — der ehelichen, der Geſchwiſter, und der
Freundesliebe — unſere glatten ſchluͤpferigen Herzen
zuſammen in verſchiedenen Entfernungen. So erzieht
ſie unſer Herz zur hoͤheren Waͤrme. Der Staat
giebt ihm eine noch groͤßere, denn der Buͤrger liebt
ſchon mehr den Menſchen im Buͤrger als der Bru¬
der im Bruder, der Vater im Sohn. Vaterlands¬
liebe iſt nichts als ein eingeſchraͤnkter Kosmopolitis¬
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/106>, abgerufen am 21.11.2024.
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