habnen Freimüthigkeit der Tugend und mit einem in schwesterlicher Liebe schwimmenden Auge über ihren Bruder auszufragen, ob er glücklich und zufrieden sey, wie er arbeite, wie er sich in seinen Posten schicke? Sie sagte ihm, wie weh ihr bisher diese tief in ihre Seele eingesperrten Fragen gethan; und sie dankte ihm für das Geschenk seines Vertrauens mit einer Wärme, die er für einen feinen Tadel sei¬ nes bisherigen Schweigens hielt. Sie stand von je¬ her gern in einem Blumenkranz von Kindern; aber hier hatte sie auch noch deswegen diese sanften Ne¬ belsterne um ihren Glanz versammelt, um es zu ver¬ bergen, daß sie eine kleine fünfjährige Enkelin des Stadtseniors, bei dem ihr Bruder wohnte, als die unwillkührliche Biographie und Zeitungsträgerin des¬ selben an sich ziehe. Mehr als dreimal war ihm als müßt' er diesem lilienweißen Engel, den seine Wolke immer höher trug, zu Füßen fallen und mit ausge¬ breiteten Armen sagen: "Edle, werde meine Freun¬ "din eh' du stirbst -- meine alte Liebe gegen dich "ist längst zerquetscht, denn du bist zu gut für mich "und für uns alle -- aber dein Freund will ich "seyn, mein Herz will ich überwinden für dich, mei¬ "nen Himmel will ich hingeben für dich, -- ach "du wirst ohnehin den Abendthau des Alters nicht "erleben und die Augen bald zumachen und der Mor¬ "genthau hängt noch darin!" Denn er hielt ihre
habnen Freimuͤthigkeit der Tugend und mit einem in ſchweſterlicher Liebe ſchwimmenden Auge uͤber ihren Bruder auszufragen, ob er gluͤcklich und zufrieden ſey, wie er arbeite, wie er ſich in ſeinen Poſten ſchicke? Sie ſagte ihm, wie weh ihr bisher dieſe tief in ihre Seele eingeſperrten Fragen gethan; und ſie dankte ihm fuͤr das Geſchenk ſeines Vertrauens mit einer Waͤrme, die er fuͤr einen feinen Tadel ſei¬ nes bisherigen Schweigens hielt. Sie ſtand von je¬ her gern in einem Blumenkranz von Kindern; aber hier hatte ſie auch noch deswegen dieſe ſanften Ne¬ belſterne um ihren Glanz verſammelt, um es zu ver¬ bergen, daß ſie eine kleine fuͤnfjaͤhrige Enkelin des Stadtſeniors, bei dem ihr Bruder wohnte, als die unwillkuͤhrliche Biographie und Zeitungstraͤgerin deſ¬ ſelben an ſich ziehe. Mehr als dreimal war ihm als muͤßt' er dieſem lilienweißen Engel, den ſeine Wolke immer hoͤher trug, zu Fuͤßen fallen und mit ausge¬ breiteten Armen ſagen: »Edle, werde meine Freun¬ »din eh' du ſtirbſt — meine alte Liebe gegen dich »iſt laͤngſt zerquetſcht, denn du biſt zu gut fuͤr mich »und fuͤr uns alle — aber dein Freund will ich »ſeyn, mein Herz will ich uͤberwinden fuͤr dich, mei¬ »nen Himmel will ich hingeben fuͤr dich, — ach »du wirſt ohnehin den Abendthau des Alters nicht »erleben und die Augen bald zumachen und der Mor¬ »genthau haͤngt noch darin!« Denn er hielt ihre
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0233"n="223"/>
habnen Freimuͤthigkeit der Tugend und mit einem in<lb/>ſchweſterlicher Liebe ſchwimmenden Auge uͤber ihren<lb/>
Bruder auszufragen, ob er gluͤcklich und zufrieden<lb/>ſey, wie er arbeite, wie er ſich in ſeinen Poſten<lb/>ſchicke? Sie ſagte ihm, wie weh ihr bisher dieſe<lb/>
tief in ihre Seele eingeſperrten Fragen gethan; und<lb/>ſie dankte ihm fuͤr das Geſchenk ſeines Vertrauens<lb/>
mit einer Waͤrme, die er fuͤr einen feinen Tadel ſei¬<lb/>
nes bisherigen Schweigens hielt. Sie ſtand von je¬<lb/>
her gern in einem Blumenkranz von Kindern; aber<lb/>
hier hatte ſie auch noch deswegen dieſe ſanften Ne¬<lb/>
belſterne um ihren Glanz verſammelt, um es zu ver¬<lb/>
bergen, daß ſie eine kleine fuͤnfjaͤhrige Enkelin des<lb/>
Stadtſeniors, bei dem ihr Bruder wohnte, als die<lb/>
unwillkuͤhrliche Biographie und Zeitungstraͤgerin deſ¬<lb/>ſelben an ſich ziehe. Mehr als dreimal war ihm als<lb/>
muͤßt' er dieſem lilienweißen Engel, den ſeine Wolke<lb/>
immer hoͤher trug, zu Fuͤßen fallen und mit ausge¬<lb/>
breiteten Armen ſagen: »Edle, werde meine Freun¬<lb/>
»din eh' du ſtirbſt — meine alte Liebe gegen dich<lb/>
»iſt laͤngſt zerquetſcht, denn du biſt zu gut fuͤr mich<lb/>
»und fuͤr uns alle — aber dein Freund will ich<lb/>
»ſeyn, mein Herz will ich uͤberwinden fuͤr dich, mei¬<lb/>
»nen Himmel will ich hingeben fuͤr dich, — ach<lb/>
»du wirſt ohnehin den Abendthau des Alters nicht<lb/>
»erleben und die Augen bald zumachen und der Mor¬<lb/>
»genthau haͤngt noch darin!« Denn er hielt ihre<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[223/0233]
habnen Freimuͤthigkeit der Tugend und mit einem in
ſchweſterlicher Liebe ſchwimmenden Auge uͤber ihren
Bruder auszufragen, ob er gluͤcklich und zufrieden
ſey, wie er arbeite, wie er ſich in ſeinen Poſten
ſchicke? Sie ſagte ihm, wie weh ihr bisher dieſe
tief in ihre Seele eingeſperrten Fragen gethan; und
ſie dankte ihm fuͤr das Geſchenk ſeines Vertrauens
mit einer Waͤrme, die er fuͤr einen feinen Tadel ſei¬
nes bisherigen Schweigens hielt. Sie ſtand von je¬
her gern in einem Blumenkranz von Kindern; aber
hier hatte ſie auch noch deswegen dieſe ſanften Ne¬
belſterne um ihren Glanz verſammelt, um es zu ver¬
bergen, daß ſie eine kleine fuͤnfjaͤhrige Enkelin des
Stadtſeniors, bei dem ihr Bruder wohnte, als die
unwillkuͤhrliche Biographie und Zeitungstraͤgerin deſ¬
ſelben an ſich ziehe. Mehr als dreimal war ihm als
muͤßt' er dieſem lilienweißen Engel, den ſeine Wolke
immer hoͤher trug, zu Fuͤßen fallen und mit ausge¬
breiteten Armen ſagen: »Edle, werde meine Freun¬
»din eh' du ſtirbſt — meine alte Liebe gegen dich
»iſt laͤngſt zerquetſcht, denn du biſt zu gut fuͤr mich
»und fuͤr uns alle — aber dein Freund will ich
»ſeyn, mein Herz will ich uͤberwinden fuͤr dich, mei¬
»nen Himmel will ich hingeben fuͤr dich, — ach
»du wirſt ohnehin den Abendthau des Alters nicht
»erleben und die Augen bald zumachen und der Mor¬
»genthau haͤngt noch darin!« Denn er hielt ihre
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/233>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.