Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Viktor sargte sich so zu sagen an jenem Tage in
sein Zimmer ein, das er niemand als einer Thür-
und Wandnachbarin der Schmerzen, Marien, öfne¬
te, deren Gestalt ihm so sanft wie eine Abendsonne
that. Jedes andre weibliche Gesicht auf der Straße
gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klo¬
tilde, den er am Fenster sah und heute gern umarmt
hätte, gab der müden Erinnerung neue Thränen zu
Farben. . . . Leser! -- die Leserin ist von selber ge¬
scheuter -- lache nicht über meinen guten Helden,
der da keiner ist, wo gerade die Stärke der Seele
die Stärke des Schmerzens wird: laß mich es wenig¬
stens nicht hören. Wem der sympathetische Nerve
des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchschnitt¬
ten ist, der darf schon einmal seufzen und sagen:
alles kann der Mensch auf der Erde geduldiger ver¬
lieren als Menschen. -- --

Und doch führte Abends ein Zufall -- nämlich
ein Brief -- alle seine Schmerzen noch einmal durch
sein müdes Herz. Ein kleiner Brief von Emanuel
-- aber keine Antwort auf den erst abgesandten --
kam an.

"Mein immer Geliebter,

"Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues
Lebens-Gewühl erfahren und ich habe gesagt: mein
Geliebter bleibe glücklich -- die Ruhe der Tugend

Viktor ſargte ſich ſo zu ſagen an jenem Tage in
ſein Zimmer ein, das er niemand als einer Thuͤr-
und Wandnachbarin der Schmerzen, Marien, oͤfne¬
te, deren Geſtalt ihm ſo ſanft wie eine Abendſonne
that. Jedes andre weibliche Geſicht auf der Straße
gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klo¬
tilde, den er am Fenſter ſah und heute gern umarmt
haͤtte, gab der muͤden Erinnerung neue Thraͤnen zu
Farben. . . . Leſer! — die Leſerin iſt von ſelber ge¬
ſcheuter — lache nicht uͤber meinen guten Helden,
der da keiner iſt, wo gerade die Staͤrke der Seele
die Staͤrke des Schmerzens wird: laß mich es wenig¬
ſtens nicht hoͤren. Wem der ſympathetiſche Nerve
des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchſchnitt¬
ten iſt, der darf ſchon einmal ſeufzen und ſagen:
alles kann der Menſch auf der Erde geduldiger ver¬
lieren als Menſchen. — —

Und doch fuͤhrte Abends ein Zufall — naͤmlich
ein Brief — alle ſeine Schmerzen noch einmal durch
ſein muͤdes Herz. Ein kleiner Brief von Emanuel
— aber keine Antwort auf den erſt abgeſandten —
kam an.

»Mein immer Geliebter,

»Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues
Lebens-Gewuͤhl erfahren und ich habe geſagt: mein
Geliebter bleibe gluͤcklich — die Ruhe der Tugend

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0116" n="106"/>
          <p>Viktor &#x017F;argte &#x017F;ich &#x017F;o zu &#x017F;agen an jenem Tage in<lb/>
&#x017F;ein Zimmer ein, das er niemand als einer Thu&#x0364;r-<lb/>
und Wandnachbarin der Schmerzen, Marien, o&#x0364;fne¬<lb/>
te, deren Ge&#x017F;talt ihm &#x017F;o &#x017F;anft wie eine Abend&#x017F;onne<lb/>
that. Jedes andre weibliche Ge&#x017F;icht auf der Straße<lb/>
gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klo¬<lb/>
tilde, den er am Fen&#x017F;ter &#x017F;ah und heute gern umarmt<lb/>
ha&#x0364;tte, gab der mu&#x0364;den Erinnerung neue Thra&#x0364;nen zu<lb/>
Farben. . . . Le&#x017F;er! &#x2014; die Le&#x017F;erin i&#x017F;t von &#x017F;elber ge¬<lb/>
&#x017F;cheuter &#x2014; lache nicht u&#x0364;ber meinen guten Helden,<lb/>
der da keiner i&#x017F;t, wo gerade die Sta&#x0364;rke der Seele<lb/>
die Sta&#x0364;rke des Schmerzens wird: laß mich es wenig¬<lb/>
&#x017F;tens nicht ho&#x0364;ren. Wem der &#x017F;ympatheti&#x017F;che Nerve<lb/>
des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durch&#x017F;chnitt¬<lb/>
ten i&#x017F;t, der darf &#x017F;chon einmal &#x017F;eufzen und &#x017F;agen:<lb/>
alles kann der Men&#x017F;ch auf der Erde geduldiger ver¬<lb/>
lieren als Men&#x017F;chen. &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
          <p>Und doch fu&#x0364;hrte Abends ein Zufall &#x2014; na&#x0364;mlich<lb/>
ein Brief &#x2014; alle &#x017F;eine Schmerzen noch einmal durch<lb/>
&#x017F;ein mu&#x0364;des Herz. Ein kleiner Brief von Emanuel<lb/>
&#x2014; aber keine Antwort auf den er&#x017F;t abge&#x017F;andten &#x2014;<lb/>
kam an.</p><lb/>
          <p>»<hi rendition="#g">Mein immer Geliebter</hi>,</p><lb/>
          <p>»Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues<lb/>
Lebens-Gewu&#x0364;hl erfahren und ich habe ge&#x017F;agt: mein<lb/>
Geliebter bleibe glu&#x0364;cklich &#x2014; die Ruhe der Tugend<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0116] Viktor ſargte ſich ſo zu ſagen an jenem Tage in ſein Zimmer ein, das er niemand als einer Thuͤr- und Wandnachbarin der Schmerzen, Marien, oͤfne¬ te, deren Geſtalt ihm ſo ſanft wie eine Abendſonne that. Jedes andre weibliche Geſicht auf der Straße gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klo¬ tilde, den er am Fenſter ſah und heute gern umarmt haͤtte, gab der muͤden Erinnerung neue Thraͤnen zu Farben. . . . Leſer! — die Leſerin iſt von ſelber ge¬ ſcheuter — lache nicht uͤber meinen guten Helden, der da keiner iſt, wo gerade die Staͤrke der Seele die Staͤrke des Schmerzens wird: laß mich es wenig¬ ſtens nicht hoͤren. Wem der ſympathetiſche Nerve des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchſchnitt¬ ten iſt, der darf ſchon einmal ſeufzen und ſagen: alles kann der Menſch auf der Erde geduldiger ver¬ lieren als Menſchen. — — Und doch fuͤhrte Abends ein Zufall — naͤmlich ein Brief — alle ſeine Schmerzen noch einmal durch ſein muͤdes Herz. Ein kleiner Brief von Emanuel — aber keine Antwort auf den erſt abgeſandten — kam an. »Mein immer Geliebter, »Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues Lebens-Gewuͤhl erfahren und ich habe geſagt: mein Geliebter bleibe gluͤcklich — die Ruhe der Tugend

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/116
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/116>, abgerufen am 23.11.2024.