Seine gränzenlose Aufrichtigkeit, seine gränzenlose Erweichung konnt' er mit nichts befriedigen als mit einem Briefe an seinen Emanuel, in den seine Seele so sehr wie sein Auge überströmte.
"O theurer Geliebter!
"Sollt' ich denn dirs verbergen, wenn mich Schmerzen übermannen oder Thorheiten? Sollt' ich dir nur meine bereueten Fehler zeigen und nie meine gegenwärtigen? -- Nein, trete her, Theurer, an meine wunde Brust, ich öfne dir das Herz darin, es blute und poche unter der Entblößung wie es will -- ach du deckest es doch vielleicht mit deiner väterlichen Liebe wieder zu und sagst: ich lieb' es noch. --
Du, mein Emanuel, ruhest in deiner hohen Ein¬ samkeit, auf dem Ararat der erretteten Seele, auf dem Thabor der glänzenden; da blickest du sanft ge¬ blendet in die Sonne der Gottheit und siehest ru¬ hig die Wolke des Todes auf die Sonne zuschwim¬ men -- sie verhüllt sie, du erblindest unter der Wol¬ ke, sie verrinnt, und du stehst wieder vor Gott. -- Du liebst Menschen als Kinder, die nicht beleidigen können -- du liebst Erdengenüße wie Früchte, die man zur Kühlung pflückt, aber ohne nach ihnen zu hungern -- die Gewitter und Erdbeben des Lebens gehen vor dir ungehört vorüber, weil du in einem
Hesperus. II. Th. G
Seine graͤnzenloſe Aufrichtigkeit, ſeine graͤnzenloſe Erweichung konnt' er mit nichts befriedigen als mit einem Briefe an ſeinen Emanuel, in den ſeine Seele ſo ſehr wie ſein Auge uͤberſtroͤmte.
»O theurer Geliebter!
»Sollt' ich denn dirs verbergen, wenn mich Schmerzen uͤbermannen oder Thorheiten? Sollt' ich dir nur meine bereueten Fehler zeigen und nie meine gegenwaͤrtigen? — Nein, trete her, Theurer, an meine wunde Bruſt, ich oͤfne dir das Herz darin, es blute und poche unter der Entbloͤßung wie es will — ach du deckeſt es doch vielleicht mit deiner vaͤterlichen Liebe wieder zu und ſagſt: ich lieb' es noch. —
Du, mein Emanuel, ruheſt in deiner hohen Ein¬ ſamkeit, auf dem Ararat der erretteten Seele, auf dem Thabor der glaͤnzenden; da blickeſt du ſanft ge¬ blendet in die Sonne der Gottheit und ſieheſt ru¬ hig die Wolke des Todes auf die Sonne zuſchwim¬ men — ſie verhuͤllt ſie, du erblindeſt unter der Wol¬ ke, ſie verrinnt, und du ſtehſt wieder vor Gott. — Du liebſt Menſchen als Kinder, die nicht beleidigen koͤnnen — du liebſt Erdengenuͤße wie Fruͤchte, die man zur Kuͤhlung pfluͤckt, aber ohne nach ihnen zu hungern — die Gewitter und Erdbeben des Lebens gehen vor dir ungehoͤrt voruͤber, weil du in einem
Hesperus. II. Th. G
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Seine graͤnzenloſe Aufrichtigkeit, ſeine graͤnzenloſe
Erweichung konnt' er mit nichts befriedigen als mit
einem Briefe an ſeinen Emanuel, in den ſeine Seele
ſo ſehr wie ſein Auge uͤberſtroͤmte.
»O theurer Geliebter!
»Sollt' ich denn dirs verbergen, wenn mich
Schmerzen uͤbermannen oder Thorheiten? Sollt' ich
dir nur meine bereueten Fehler zeigen und nie meine
gegenwaͤrtigen? — Nein, trete her, Theurer, an
meine wunde Bruſt, ich oͤfne dir das Herz darin,
es blute und poche unter der Entbloͤßung wie es
will — ach du deckeſt es doch vielleicht mit deiner
vaͤterlichen Liebe wieder zu und ſagſt: ich lieb' es
noch. —
Du, mein Emanuel, ruheſt in deiner hohen Ein¬
ſamkeit, auf dem Ararat der erretteten Seele, auf
dem Thabor der glaͤnzenden; da blickeſt du ſanft ge¬
blendet in die Sonne der Gottheit und ſieheſt ru¬
hig die Wolke des Todes auf die Sonne zuſchwim¬
men — ſie verhuͤllt ſie, du erblindeſt unter der Wol¬
ke, ſie verrinnt, und du ſtehſt wieder vor Gott. —
Du liebſt Menſchen als Kinder, die nicht beleidigen
koͤnnen — du liebſt Erdengenuͤße wie Fruͤchte, die
man zur Kuͤhlung pfluͤckt, aber ohne nach ihnen zu
hungern — die Gewitter und Erdbeben des Lebens
gehen vor dir ungehoͤrt voruͤber, weil du in einem
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/107>, abgerufen am 23.11.2024.
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