Einen närrischen philosophischen Styl hat sich der Leser angewöhnt; aber es ist wahr: daher ein Mäd¬ gen nie so begierig für ihr Theater den zweiten Lieb¬ haber wirbt als nach dem Hintritt des ersten und nach den Schwüren, ihr Werbepatent wegzuwerfen.
Wie konnt' aber der Leser auf noch wichtigere Ursachen *) nicht fallen, 1) auf die Tutti-Liebe und 2) auf Viktors Muttermäler?
1) Die Tutti- oder Simultanliebe ist zu wenig bekannt. Es ist noch keine Desinizion davon da als meine: in unsern Tagen sind nämlich die Lese¬ kabineter, die Tanzsäle, die Konzertsäle, die Wein¬ berge, die Koffee- und Theetische, diese sind die Treibhäuser unsers Herzens und die Raffinerien un¬ serer Nerven, jenes wird zu gros, diese zu fein -- wenn nun in diesen ehelustigen und ehrlosen Zeiten ein Jüngling, der noch auf seine Messiasinn wie ein Jude passet und der noch ohne den Gegenstand des erotischen con brio des Herzens ist, von ungefähr mit einer Tanz-Moitistin etc. mit einer Klubistin oder Associee, oder Amtsschwester, oder Litis-Kon¬ sortinn hundert Seiten in Salis oder Göthe lie¬ set -- oder mit ihr über den Klee- oder Seidenbau
*) Eine vierte Ursache wäre, daß ihm jetzt jede Liebe gegen ei¬ ne andre als gegen Klotilde ein Verdienst um seinen Freund zu seyn schien.
Einen naͤrriſchen philoſophiſchen Styl hat ſich der Leſer angewoͤhnt; aber es iſt wahr: daher ein Maͤd¬ gen nie ſo begierig fuͤr ihr Theater den zweiten Lieb¬ haber wirbt als nach dem Hintritt des erſten und nach den Schwuͤren, ihr Werbepatent wegzuwerfen.
Wie konnt' aber der Leſer auf noch wichtigere Urſachen *) nicht fallen, 1) auf die Tutti-Liebe und 2) auf Viktors Muttermaͤler?
1) Die Tutti- oder Simultanliebe iſt zu wenig bekannt. Es iſt noch keine Deſinizion davon da als meine: in unſern Tagen ſind naͤmlich die Leſe¬ kabineter, die Tanzſaͤle, die Konzertſaͤle, die Wein¬ berge, die Koffee- und Theetiſche, dieſe ſind die Treibhaͤuſer unſers Herzens und die Raffinerien un¬ ſerer Nerven, jenes wird zu gros, dieſe zu fein — wenn nun in dieſen eheluſtigen und ehrloſen Zeiten ein Juͤngling, der noch auf ſeine Meſſiasinn wie ein Jude paſſet und der noch ohne den Gegenſtand des erotiſchen con brio des Herzens iſt, von ungefaͤhr mit einer Tanz-Moitiſtin ꝛc. mit einer Klubiſtin oder Aſſociee, oder Amtsſchweſter, oder Litis-Kon¬ ſortinn hundert Seiten in Salis oder Goͤthe lie¬ ſet — oder mit ihr uͤber den Klee- oder Seidenbau
*) Eine vierte Urſache waͤre, daß ihm jetzt jede Liebe gegen ei¬ ne andre als gegen Klotilde ein Verdienſt um ſeinen Freund zu ſeyn ſchien.
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Einen naͤrriſchen philoſophiſchen Styl hat ſich der
Leſer angewoͤhnt; aber es iſt wahr: daher ein Maͤd¬
gen nie ſo begierig fuͤr ihr Theater den zweiten Lieb¬
haber wirbt als nach dem Hintritt des erſten und
nach den Schwuͤren, ihr Werbepatent wegzuwerfen.
Wie konnt' aber der Leſer auf noch wichtigere
Urſachen *) nicht fallen, 1) auf die Tutti-Liebe
und 2) auf Viktors Muttermaͤler?
1) Die Tutti- oder Simultanliebe iſt zu wenig
bekannt. Es iſt noch keine Deſinizion davon da
als meine: in unſern Tagen ſind naͤmlich die Leſe¬
kabineter, die Tanzſaͤle, die Konzertſaͤle, die Wein¬
berge, die Koffee- und Theetiſche, dieſe ſind die
Treibhaͤuſer unſers Herzens und die Raffinerien un¬
ſerer Nerven, jenes wird zu gros, dieſe zu fein —
wenn nun in dieſen eheluſtigen und ehrloſen Zeiten
ein Juͤngling, der noch auf ſeine Meſſiasinn wie ein
Jude paſſet und der noch ohne den Gegenſtand des
erotiſchen con brio des Herzens iſt, von ungefaͤhr
mit einer Tanz-Moitiſtin ꝛc. mit einer Klubiſtin
oder Aſſociee, oder Amtsſchweſter, oder Litis-Kon¬
ſortinn hundert Seiten in Salis oder Goͤthe lie¬
ſet — oder mit ihr uͤber den Klee- oder Seidenbau
*)
Eine vierte Urſache waͤre, daß ihm jetzt jede Liebe gegen ei¬
ne andre als gegen Klotilde ein Verdienſt um ſeinen
Freund zu ſeyn ſchien.
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/285>, abgerufen am 16.02.2025.
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