Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen;
aus jedem Fenster schrien ihm Kinder nach, die er
geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬
überlief, hielten sich für glücklich, wenn sie eine
Mütze aufhatten -- sie konnten sie vor dem Herrn
abnehmen. Denn sein erstes Studium in St. Lüne
war die Geschichte in St. Lüne, die aus den münd¬
lichen Konduitenlisten der historischen Personen sel¬
ber und aus der Reichspostreiterin, aus der Pfarre¬
rin geschöpft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬
tarchin allemal zwei Karaktere wie Tücher zusam¬
men; und ihr Mann las ihm nach bestem Wissen
und Gewissen über die Kirchen- und Reformations¬
geschichte seines Beichtsprengels. Viktor legte sich
auf diese mikrokosmische Universalhistorie aus zwei
Absichten, erstlich um sie -- welches Brodstudenten
auch bei der größern vorhaben -- rein wieder zu
vergessen; zweitens, um im Dorfe so zu Hause zu
seyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus
er den Vortheil zu ziehen hoffte, daß er betrübt
wurde, wenn ein St. Lüner verstarb, und fröhlich,
wenn er vorher heirathete.

-- Jetzt schreitet die Geschichte wieder von ei¬
nem Tage auf den andern fort, gleichsam auf den
Steingen im Strome der Zeit. --

So schön war also der Frühling vor ihm vorü¬
bergegangen mit Sabbathswochen, mit den Pfingst¬

ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen;
aus jedem Fenſter ſchrien ihm Kinder nach, die er
geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬
uͤberlief, hielten ſich fuͤr gluͤcklich, wenn ſie eine
Muͤtze aufhatten — ſie konnten ſie vor dem Herrn
abnehmen. Denn ſein erſtes Studium in St. Luͤne
war die Geſchichte in St. Luͤne, die aus den muͤnd¬
lichen Konduitenliſten der hiſtoriſchen Perſonen ſel¬
ber und aus der Reichspoſtreiterin, aus der Pfarre¬
rin geſchoͤpft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬
tarchin allemal zwei Karaktere wie Tuͤcher zuſam¬
men; und ihr Mann las ihm nach beſtem Wiſſen
und Gewiſſen uͤber die Kirchen- und Reformations¬
geſchichte ſeines Beichtſprengels. Viktor legte ſich
auf dieſe mikrokosmiſche Univerſalhiſtorie aus zwei
Abſichten, erſtlich um ſie — welches Brodſtudenten
auch bei der groͤßern vorhaben — rein wieder zu
vergeſſen; zweitens, um im Dorfe ſo zu Hauſe zu
ſeyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus
er den Vortheil zu ziehen hoffte, daß er betruͤbt
wurde, wenn ein St. Luͤner verſtarb, und froͤhlich,
wenn er vorher heirathete.

— Jetzt ſchreitet die Geſchichte wieder von ei¬
nem Tage auf den andern fort, gleichſam auf den
Steingen im Strome der Zeit. —

So ſchoͤn war alſo der Fruͤhling vor ihm voruͤ¬
bergegangen mit Sabbathswochen, mit den Pfingſt¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0185" n="174"/>
ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen;<lb/>
aus jedem Fen&#x017F;ter &#x017F;chrien ihm Kinder nach, die er<lb/>
geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬<lb/>
u&#x0364;berlief, hielten &#x017F;ich fu&#x0364;r glu&#x0364;cklich, wenn &#x017F;ie eine<lb/>
Mu&#x0364;tze aufhatten &#x2014; &#x017F;ie konnten &#x017F;ie vor dem Herrn<lb/>
abnehmen. Denn &#x017F;ein er&#x017F;tes Studium in St. Lu&#x0364;ne<lb/>
war die Ge&#x017F;chichte in St. Lu&#x0364;ne, die aus den mu&#x0364;nd¬<lb/>
lichen Konduitenli&#x017F;ten der hi&#x017F;tori&#x017F;chen Per&#x017F;onen &#x017F;el¬<lb/>
ber und aus der Reichspo&#x017F;treiterin, aus der Pfarre¬<lb/>
rin ge&#x017F;cho&#x0364;pft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬<lb/>
tarchin allemal zwei Karaktere wie Tu&#x0364;cher zu&#x017F;am¬<lb/>
men; und ihr Mann las ihm nach be&#x017F;tem Wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und Gewi&#x017F;&#x017F;en u&#x0364;ber die Kirchen- und Reformations¬<lb/>
ge&#x017F;chichte &#x017F;eines Beicht&#x017F;prengels. Viktor legte &#x017F;ich<lb/>
auf die&#x017F;e mikrokosmi&#x017F;che Univer&#x017F;alhi&#x017F;torie aus zwei<lb/>
Ab&#x017F;ichten, er&#x017F;tlich um &#x017F;ie &#x2014; welches Brod&#x017F;tudenten<lb/>
auch bei der gro&#x0364;ßern vorhaben &#x2014; rein wieder zu<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;en; zweitens, um im Dorfe &#x017F;o zu Hau&#x017F;e zu<lb/>
&#x017F;eyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus<lb/>
er den Vortheil zu ziehen hoffte, daß er betru&#x0364;bt<lb/>
wurde, wenn ein St. Lu&#x0364;ner ver&#x017F;tarb, und fro&#x0364;hlich,<lb/>
wenn er vorher heirathete.</p><lb/>
        <p>&#x2014; Jetzt &#x017F;chreitet die Ge&#x017F;chichte wieder von ei¬<lb/>
nem Tage auf den andern fort, gleich&#x017F;am auf den<lb/>
Steingen im Strome der Zeit. &#x2014;</p><lb/>
        <p>So &#x017F;cho&#x0364;n war al&#x017F;o der Fru&#x0364;hling vor ihm voru&#x0364;¬<lb/>
bergegangen mit Sabbathswochen, mit den Pfing&#x017F;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[174/0185] ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen; aus jedem Fenſter ſchrien ihm Kinder nach, die er geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬ uͤberlief, hielten ſich fuͤr gluͤcklich, wenn ſie eine Muͤtze aufhatten — ſie konnten ſie vor dem Herrn abnehmen. Denn ſein erſtes Studium in St. Luͤne war die Geſchichte in St. Luͤne, die aus den muͤnd¬ lichen Konduitenliſten der hiſtoriſchen Perſonen ſel¬ ber und aus der Reichspoſtreiterin, aus der Pfarre¬ rin geſchoͤpft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬ tarchin allemal zwei Karaktere wie Tuͤcher zuſam¬ men; und ihr Mann las ihm nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen uͤber die Kirchen- und Reformations¬ geſchichte ſeines Beichtſprengels. Viktor legte ſich auf dieſe mikrokosmiſche Univerſalhiſtorie aus zwei Abſichten, erſtlich um ſie — welches Brodſtudenten auch bei der groͤßern vorhaben — rein wieder zu vergeſſen; zweitens, um im Dorfe ſo zu Hauſe zu ſeyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus er den Vortheil zu ziehen hoffte, daß er betruͤbt wurde, wenn ein St. Luͤner verſtarb, und froͤhlich, wenn er vorher heirathete. — Jetzt ſchreitet die Geſchichte wieder von ei¬ nem Tage auf den andern fort, gleichſam auf den Steingen im Strome der Zeit. — So ſchoͤn war alſo der Fruͤhling vor ihm voruͤ¬ bergegangen mit Sabbathswochen, mit den Pfingſt¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/185
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/185>, abgerufen am 19.05.2024.