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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795.

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wollen, allezeit funfzehn Unzen mehr Böses und we¬
niger Gutes zu als er wirklich hat. Hingegen bey
gegenwärtigen Personen haben sie diese stellvertreten¬
de Genugthuung nicht nöthig. Daher ist das Leben
solcher Kurial-Edeln ganz dramatisch: denn da nach
Aristoteles die Komödie die Menschen schlechter,
und die Tragödie sie besser mahlt als sie sind, so
lassen gedachte Edle in jener nur Abwesende,
in dieser nur Gegenwärtige agiren. -- Ich weis
nicht, ob diese Vollkommenheit hinreicht, einen
wirklichen Fehler des Evangelisten gutzumachen,
welches der war, daß er wie an Luperkalien zu oft
nach dem weiblichen Geschlecht Hiebe führte. So
sagte er heute z. B.: Mädgen und Himbeere hätten
schon Maden eh' sie nur reif wären -- die weibli¬
che Tugend wäre das glühende Eisen, das eine Frau
(wie auch sonst bey den Ordalien) vom Taufstein
(Tauftag) bis zum Altar (Kopulazionstag) zu tra¬
gen hätte, um unschuldig zu seyn u. s. w.

Nichts fiel Klotilden -- und so hab' ichs alle¬
mal bey den besten ihres Geschlechts gefunden --
empfindlicher als Satyre auf ihr ganzes Geschlecht;
aber Viktor erstaunte über ihr dem Geschlecht und
der Welt Erfahrenheit gleich sehr eigne Kunst es zu
verbergen, daß sie -- tolerire und verachte.

Des Evangelisten Beyspiel machte, daß auch Vik¬
tor anfing zu phosphoreszieren auf allen Punkten

wollen, allezeit funfzehn Unzen mehr Boͤſes und we¬
niger Gutes zu als er wirklich hat. Hingegen bey
gegenwaͤrtigen Perſonen haben ſie dieſe ſtellvertreten¬
de Genugthuung nicht noͤthig. Daher iſt das Leben
ſolcher Kurial-Edeln ganz dramatiſch: denn da nach
Ariſtoteles die Komoͤdie die Menſchen ſchlechter,
und die Tragoͤdie ſie beſſer mahlt als ſie ſind, ſo
laſſen gedachte Edle in jener nur Abweſende,
in dieſer nur Gegenwaͤrtige agiren. — Ich weis
nicht, ob dieſe Vollkommenheit hinreicht, einen
wirklichen Fehler des Evangeliſten gutzumachen,
welches der war, daß er wie an Luperkalien zu oft
nach dem weiblichen Geſchlecht Hiebe fuͤhrte. So
ſagte er heute z. B.: Maͤdgen und Himbeere haͤtten
ſchon Maden eh' ſie nur reif waͤren — die weibli¬
che Tugend waͤre das gluͤhende Eiſen, das eine Frau
(wie auch ſonſt bey den Ordalien) vom Taufſtein
(Tauftag) bis zum Altar (Kopulazionstag) zu tra¬
gen haͤtte, um unſchuldig zu ſeyn u. ſ. w.

Nichts fiel Klotilden — und ſo hab' ichs alle¬
mal bey den beſten ihres Geſchlechts gefunden —
empfindlicher als Satyre auf ihr ganzes Geſchlecht;
aber Viktor erſtaunte uͤber ihr dem Geſchlecht und
der Welt Erfahrenheit gleich ſehr eigne Kunſt es zu
verbergen, daß ſie — tolerire und verachte.

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[92/0103] wollen, allezeit funfzehn Unzen mehr Boͤſes und we¬ niger Gutes zu als er wirklich hat. Hingegen bey gegenwaͤrtigen Perſonen haben ſie dieſe ſtellvertreten¬ de Genugthuung nicht noͤthig. Daher iſt das Leben ſolcher Kurial-Edeln ganz dramatiſch: denn da nach Ariſtoteles die Komoͤdie die Menſchen ſchlechter, und die Tragoͤdie ſie beſſer mahlt als ſie ſind, ſo laſſen gedachte Edle in jener nur Abweſende, in dieſer nur Gegenwaͤrtige agiren. — Ich weis nicht, ob dieſe Vollkommenheit hinreicht, einen wirklichen Fehler des Evangeliſten gutzumachen, welches der war, daß er wie an Luperkalien zu oft nach dem weiblichen Geſchlecht Hiebe fuͤhrte. So ſagte er heute z. B.: Maͤdgen und Himbeere haͤtten ſchon Maden eh' ſie nur reif waͤren — die weibli¬ che Tugend waͤre das gluͤhende Eiſen, das eine Frau (wie auch ſonſt bey den Ordalien) vom Taufſtein (Tauftag) bis zum Altar (Kopulazionstag) zu tra¬ gen haͤtte, um unſchuldig zu ſeyn u. ſ. w. Nichts fiel Klotilden — und ſo hab' ichs alle¬ mal bey den beſten ihres Geſchlechts gefunden — empfindlicher als Satyre auf ihr ganzes Geſchlecht; aber Viktor erſtaunte uͤber ihr dem Geſchlecht und der Welt Erfahrenheit gleich ſehr eigne Kunſt es zu verbergen, daß ſie — tolerire und verachte. Des Evangeliſten Beyſpiel machte, daß auch Vik¬ tor anfing zu phosphoreszieren auf allen Punkten

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Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/103>, abgerufen am 19.05.2024.