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Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 3. Tübingen, 1804.

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die Hand, die seine Augen zudekte, und hatte ei¬
nen langen reinen Schmerz. Er war nicht im
Stand, das liebliche Angesicht des schönen Mäd¬
gens oder dessen Leiden zu behorchen mit Blicken,
wenn sie den Garten herwärts kam. Er erschrack
vor der ersten Stunde, wo er bei ihrem Vater ko¬
pieren und ihr aufstossen könnte. Die unterge¬
hende Sonne wärmte ihn endlich mütterlich aus
dem Winterschlafe der bösen Stunde auf. Der
Garten war leer; er gieng hinunter. Er wußte
nicht, was er drunten wollte. Im Gebüsch flat¬
terte ein halb zerrissenes feines Brief-Papierblatt.
Er nahm es, es war von weiblicher Hand und
enthielt eine aus einem fremden Briefe kopierte
Stelle, wie er aus den sogenannten Gänsefüssen
ersah. Ein halbes Blatt, ein entzweigeschliztes,
eine Kopie eines zweiten Briefes -- einen ersten
hätt' er nie gelesen -- konnt' er wohl ansehen und
lesen:

"" -- Blumen entzwei. Glaub' es mir.
O wie leicht und froh verschmerzt man eignen
Schmerz! Wie so schwer den fremden, den man,
wiewohl schuldlos und gezwungen, hergeführt!

die Hand, die ſeine Augen zudekte, und hatte ei¬
nen langen reinen Schmerz. Er war nicht im
Stand, das liebliche Angeſicht des ſchoͤnen Maͤd¬
gens oder deſſen Leiden zu behorchen mit Blicken,
wenn ſie den Garten herwaͤrts kam. Er erſchrack
vor der erſten Stunde, wo er bei ihrem Vater ko¬
pieren und ihr aufſtoſſen koͤnnte. Die unterge¬
hende Sonne waͤrmte ihn endlich muͤtterlich aus
dem Winterſchlafe der boͤſen Stunde auf. Der
Garten war leer; er gieng hinunter. Er wußte
nicht, was er drunten wollte. Im Gebuͤſch flat¬
terte ein halb zerriſſenes feines Brief-Papierblatt.
Er nahm es, es war von weiblicher Hand und
enthielt eine aus einem fremden Briefe kopierte
Stelle, wie er aus den ſogenannten Gaͤnſefuͤſſen
erſah. Ein halbes Blatt, ein entzweigeſchliztes,
eine Kopie eines zweiten Briefes — einen erſten
haͤtt’ er nie geleſen — konnt' er wohl anſehen und
leſen:

„„ — Blumen entzwei. Glaub' es mir.
O wie leicht und froh verſchmerzt man eignen
Schmerz! Wie ſo ſchwer den fremden, den man,
wiewohl ſchuldlos und gezwungen, hergefuͤhrt!

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[10/0018] die Hand, die ſeine Augen zudekte, und hatte ei¬ nen langen reinen Schmerz. Er war nicht im Stand, das liebliche Angeſicht des ſchoͤnen Maͤd¬ gens oder deſſen Leiden zu behorchen mit Blicken, wenn ſie den Garten herwaͤrts kam. Er erſchrack vor der erſten Stunde, wo er bei ihrem Vater ko¬ pieren und ihr aufſtoſſen koͤnnte. Die unterge¬ hende Sonne waͤrmte ihn endlich muͤtterlich aus dem Winterſchlafe der boͤſen Stunde auf. Der Garten war leer; er gieng hinunter. Er wußte nicht, was er drunten wollte. Im Gebuͤſch flat¬ terte ein halb zerriſſenes feines Brief-Papierblatt. Er nahm es, es war von weiblicher Hand und enthielt eine aus einem fremden Briefe kopierte Stelle, wie er aus den ſogenannten Gaͤnſefuͤſſen erſah. Ein halbes Blatt, ein entzweigeſchliztes, eine Kopie eines zweiten Briefes — einen erſten haͤtt’ er nie geleſen — konnt' er wohl anſehen und leſen: „„ — Blumen entzwei. Glaub' es mir. O wie leicht und froh verſchmerzt man eignen Schmerz! Wie ſo ſchwer den fremden, den man, wiewohl ſchuldlos und gezwungen, hergefuͤhrt!

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Zitationshilfe: Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 3. Tübingen, 1804, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_flegeljahre03_1804/18>, abgerufen am 25.04.2024.