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Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

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Das altberühmte Theatre francais in der Rue de Richelieu, die Pflanzschule und der Hort der französischen Klassizität, bewegte sich fortwährend in dem engen Kreise der Stücke von Corneille, Racine, Moliere, Voltaire und einiger andern Dramatiker, die vor dem Areopag der Kunstrichter Gnade gefunden. Wie mir gesagt ward, so mußte in jedem neu aufzunehmenden Stücke die misverstandene aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung strenge beobachtet werden. Talma als Tragiker und die Mars als unübertroffene Darstellerin feiner Karakterrollen fuhren noch immer fort, das Publikum zu begeistern. Talma zählte bereits 57 Jahre, und Demoiselle Mars war auch nicht mehr jung: denn sie hatte vor einiger Zeit eine bildschöne erwachsene Tochter von 19 Jahren verloren. Nur mit Mühe ward sie bewogen, nicht ganz von der Bühne abzutreten. In der Jeunesse de Henry V. gab sie ein 15jähriges Mädchen, die Tochter des Gastwirtes, mit hinreißender Jugendfrische. Talma bewahrte die Kraft seines Organes; in der Athalie von Racine rief er als Joas mit einer Löwenstimme, die das Haus erdröhnen machte:

Pecheurs, disparaissez! C'est le Sieur qui s'eveille!

Im Theatre francais war ich zufällig Zeuge einer eigenthümlichen Ceremonie, die ich auf keiner andern Bühne wiedergefunden, und die aus der Zeit Ludwigs XIV. herstammen sollte. Die Sitte bestand darin, daß beim Jahreswechsel alle Schauspieler sich persönlich von neuem dem Publikum empfehlen mußten. Ohne dies zu wissen ging ich am 1. Januar 1821 ins Theater, wo zuerst Talma in einem langweiligen regelrechten Trauerspiele Clovis als Eroberer, Tyrann und Barbar auf dem höchsten Kothurne glänzte. Dann folgte Molieres Malade imaginaire mit Weg-

Das altberühmte Théatre français in der Rue de Richelieu, die Pflanzschule und der Hort der französischen Klassizität, bewegte sich fortwährend in dem engen Kreise der Stücke von Corneille, Racine, Moliere, Voltaire und einiger andern Dramatiker, die vor dem Areopag der Kunstrichter Gnade gefunden. Wie mir gesagt ward, so mußte in jedem neu aufzunehmenden Stücke die misverstandene aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung strenge beobachtet werden. Talma als Tragiker und die Mars als unübertroffene Darstellerin feiner Karakterrollen fuhren noch immer fort, das Publikum zu begeistern. Talma zählte bereits 57 Jahre, und Demoiselle Mars war auch nicht mehr jung: denn sie hatte vor einiger Zeit eine bildschöne erwachsene Tochter von 19 Jahren verloren. Nur mit Mühe ward sie bewogen, nicht ganz von der Bühne abzutreten. In der Jeunesse de Henry V. gab sie ein 15jähriges Mädchen, die Tochter des Gastwirtes, mit hinreißender Jugendfrische. Talma bewahrte die Kraft seines Organes; in der Athalie von Racine rief er als Joas mit einer Löwenstimme, die das Haus erdröhnen machte:

Pêcheurs, disparaissez! C’est le Sieur qui s’éveille!

Im Théatre français war ich zufällig Zeuge einer eigenthümlichen Ceremonie, die ich auf keiner andern Bühne wiedergefunden, und die aus der Zeit Ludwigs XIV. herstammen sollte. Die Sitte bestand darin, daß beim Jahreswechsel alle Schauspieler sich persönlich von neuem dem Publikum empfehlen mußten. Ohne dies zu wissen ging ich am 1. Januar 1821 ins Theater, wo zuerst Talma in einem langweiligen regelrechten Trauerspiele Clovis als Eroberer, Tyrann und Barbar auf dem höchsten Kothurne glänzte. Dann folgte Molières Malade imaginaire mit Weg-

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[452/0460] Das altberühmte Théatre français in der Rue de Richelieu, die Pflanzschule und der Hort der französischen Klassizität, bewegte sich fortwährend in dem engen Kreise der Stücke von Corneille, Racine, Moliere, Voltaire und einiger andern Dramatiker, die vor dem Areopag der Kunstrichter Gnade gefunden. Wie mir gesagt ward, so mußte in jedem neu aufzunehmenden Stücke die misverstandene aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung strenge beobachtet werden. Talma als Tragiker und die Mars als unübertroffene Darstellerin feiner Karakterrollen fuhren noch immer fort, das Publikum zu begeistern. Talma zählte bereits 57 Jahre, und Demoiselle Mars war auch nicht mehr jung: denn sie hatte vor einiger Zeit eine bildschöne erwachsene Tochter von 19 Jahren verloren. Nur mit Mühe ward sie bewogen, nicht ganz von der Bühne abzutreten. In der Jeunesse de Henry V. gab sie ein 15jähriges Mädchen, die Tochter des Gastwirtes, mit hinreißender Jugendfrische. Talma bewahrte die Kraft seines Organes; in der Athalie von Racine rief er als Joas mit einer Löwenstimme, die das Haus erdröhnen machte: Pêcheurs, disparaissez! C’est le Sieur qui s’éveille! Im Théatre français war ich zufällig Zeuge einer eigenthümlichen Ceremonie, die ich auf keiner andern Bühne wiedergefunden, und die aus der Zeit Ludwigs XIV. herstammen sollte. Die Sitte bestand darin, daß beim Jahreswechsel alle Schauspieler sich persönlich von neuem dem Publikum empfehlen mußten. Ohne dies zu wissen ging ich am 1. Januar 1821 ins Theater, wo zuerst Talma in einem langweiligen regelrechten Trauerspiele Clovis als Eroberer, Tyrann und Barbar auf dem höchsten Kothurne glänzte. Dann folgte Molières Malade imaginaire mit Weg-

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Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/460>, abgerufen am 24.11.2024.