Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

Bild:
<< vorherige Seite

und hoffe sie einmal wo anders anwenden zu können. Der Friede war bald geschlossen, und die Vorlesung nahm ihren ungestörten Fortgang. Es ist mir jetzt selbst verwunderlich, daß ich jenen nur einmal gehörten Vers behalten, da ich aber die Anekdote manchen Freunden öfter wiederholte, so blieb die Strophe, der ein voller melodischer Fluß nicht abzusprechen ist, unwillkührlich haften.

Tiedge hatte Jurisprudenz studirt, seine Examina gemacht, und bei einem Gerichtshofe als Beisitzer gearbeitet. Als solcher erhielt er die Aufgabe, einen angeklagten Kriminalverbrecher zu vertheidigen. Dies schien ihm anfangs ganz unmöglich, weil er sich aus den Akten von der Schuld des Delinquenten überzeugt hatte. Einige Zeit war er in der grösten Bedrängniß, allein die Arbeit mußte doch gemacht werden. Er erhielt eine Unterredung mit dem Angeklagten, faßte einige Aeußerungen desselben mehr von der poetischen, als von der juristischen Seite auf, dachte sich die That mit allen mildernden Umständen, und entwarf die Vertheidigung mit einer solchen Wärme der Darstellung und in einem so blühenden Style, daß er zu seiner eignen Verwunderung das höchste Lob des Gerichtshofes ärndtete, und seinen Delinquenten mit der leichtesten Strafe durchbrachte.

Später erhielt Tiedge auf Gleims Verwendung die Stelle eines Kanonikus am Domkapitel zu Halberstadt, und konnte nun in einer sorgenfreien Existenz sich seiner Neigung zur Dichtkunst ganz hingeben.

Mit dem fruchtbaren, einst viel gelesenen Romanenschreiber Lafontaine in Halle stand Tiedge in genauster Freundschaft. Lafontaine bearbeitete am Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn die bürgerlichen Familien-

und hoffe sie einmal wo anders anwenden zu können. Der Friede war bald geschlossen, und die Vorlesung nahm ihren ungestörten Fortgang. Es ist mir jetzt selbst verwunderlich, daß ich jenen nur einmal gehörten Vers behalten, da ich aber die Anekdote manchen Freunden öfter wiederholte, so blieb die Strophe, der ein voller melodischer Fluß nicht abzusprechen ist, unwillkührlich haften.

Tiedge hatte Jurisprudenz studirt, seine Examina gemacht, und bei einem Gerichtshofe als Beisitzer gearbeitet. Als solcher erhielt er die Aufgabe, einen angeklagten Kriminalverbrecher zu vertheidigen. Dies schien ihm anfangs ganz unmöglich, weil er sich aus den Akten von der Schuld des Delinquenten überzeugt hatte. Einige Zeit war er in der grösten Bedrängniß, allein die Arbeit mußte doch gemacht werden. Er erhielt eine Unterredung mit dem Angeklagten, faßte einige Aeußerungen desselben mehr von der poetischen, als von der juristischen Seite auf, dachte sich die That mit allen mildernden Umständen, und entwarf die Vertheidigung mit einer solchen Wärme der Darstellung und in einem so blühenden Style, daß er zu seiner eignen Verwunderung das höchste Lob des Gerichtshofes ärndtete, und seinen Delinquenten mit der leichtesten Strafe durchbrachte.

Später erhielt Tiedge auf Gleims Verwendung die Stelle eines Kanonikus am Domkapitel zu Halberstadt, und konnte nun in einer sorgenfreien Existenz sich seiner Neigung zur Dichtkunst ganz hingeben.

Mit dem fruchtbaren, einst viel gelesenen Romanenschreiber Lafontaine in Halle stand Tiedge in genauster Freundschaft. Lafontaine bearbeitete am Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn die bürgerlichen Familien-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0017" n="9"/>
und hoffe sie einmal wo anders anwenden zu können. Der Friede war bald geschlossen, und die Vorlesung nahm ihren ungestörten Fortgang. Es ist mir jetzt selbst verwunderlich, daß ich jenen nur einmal gehörten Vers behalten, da ich aber die Anekdote manchen Freunden öfter wiederholte, so blieb die Strophe, der ein voller melodischer Fluß nicht abzusprechen ist, unwillkührlich haften. </p><lb/>
        <p>Tiedge hatte Jurisprudenz studirt, seine Examina gemacht, und bei einem Gerichtshofe als Beisitzer gearbeitet. Als solcher erhielt er die Aufgabe, einen angeklagten Kriminalverbrecher zu vertheidigen. Dies schien ihm anfangs ganz unmöglich, weil er sich aus den Akten von der Schuld des Delinquenten überzeugt hatte. Einige Zeit war er in der grösten Bedrängniß, allein die Arbeit mußte doch gemacht werden. Er erhielt eine Unterredung mit dem Angeklagten, faßte einige Aeußerungen desselben mehr von der poetischen, als von der juristischen Seite auf, dachte sich die That mit allen mildernden Umständen, und entwarf die Vertheidigung mit einer solchen Wärme der Darstellung und in einem so blühenden Style, daß er zu seiner eignen Verwunderung das höchste Lob des Gerichtshofes ärndtete, und seinen Delinquenten mit der leichtesten Strafe durchbrachte. </p><lb/>
        <p>Später erhielt Tiedge auf Gleims Verwendung die Stelle eines Kanonikus am Domkapitel zu Halberstadt, und konnte nun in einer sorgenfreien Existenz sich seiner Neigung zur Dichtkunst ganz hingeben. </p><lb/>
        <p>Mit dem fruchtbaren, einst viel gelesenen Romanenschreiber Lafontaine in Halle stand Tiedge in genauster Freundschaft. Lafontaine bearbeitete am Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn die bürgerlichen Familien-
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0017] und hoffe sie einmal wo anders anwenden zu können. Der Friede war bald geschlossen, und die Vorlesung nahm ihren ungestörten Fortgang. Es ist mir jetzt selbst verwunderlich, daß ich jenen nur einmal gehörten Vers behalten, da ich aber die Anekdote manchen Freunden öfter wiederholte, so blieb die Strophe, der ein voller melodischer Fluß nicht abzusprechen ist, unwillkührlich haften. Tiedge hatte Jurisprudenz studirt, seine Examina gemacht, und bei einem Gerichtshofe als Beisitzer gearbeitet. Als solcher erhielt er die Aufgabe, einen angeklagten Kriminalverbrecher zu vertheidigen. Dies schien ihm anfangs ganz unmöglich, weil er sich aus den Akten von der Schuld des Delinquenten überzeugt hatte. Einige Zeit war er in der grösten Bedrängniß, allein die Arbeit mußte doch gemacht werden. Er erhielt eine Unterredung mit dem Angeklagten, faßte einige Aeußerungen desselben mehr von der poetischen, als von der juristischen Seite auf, dachte sich die That mit allen mildernden Umständen, und entwarf die Vertheidigung mit einer solchen Wärme der Darstellung und in einem so blühenden Style, daß er zu seiner eignen Verwunderung das höchste Lob des Gerichtshofes ärndtete, und seinen Delinquenten mit der leichtesten Strafe durchbrachte. Später erhielt Tiedge auf Gleims Verwendung die Stelle eines Kanonikus am Domkapitel zu Halberstadt, und konnte nun in einer sorgenfreien Existenz sich seiner Neigung zur Dichtkunst ganz hingeben. Mit dem fruchtbaren, einst viel gelesenen Romanenschreiber Lafontaine in Halle stand Tiedge in genauster Freundschaft. Lafontaine bearbeitete am Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn die bürgerlichen Familien-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wolfgang Virmond: Bereitstellung der Texttranskription. (2014-01-07T13:04:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2014-01-07T13:04:32Z)
Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1) (2014-01-07T13:04:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/17
Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/17>, abgerufen am 23.11.2024.