Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].und machte mich auf manches Werk aufmerksam, das ich alsbald aus des Grosvaters Bibliothek hervorsuchte, um es kennen zu lernen. Gern erzählte er von seinem früheren Aufenthalte in Halberstadt bei Gleim, dessen patriotische Grenadirlieder aus dem siebenjährigen Kriege uns schon in eine gewisse mythische Ferne gerückt waren. Die eben erschienenen "Geharnischten Sonette" von Rückert übten begreiflicher Weise, als aus der nächsten Vergangenheit hervorgewachsen, einen weit größeren Reiz, und wurden neben Theodor Körners Leyer und Schwert eifrig gelesen. Gleims anerkannte Gutherzigkeit und Wohlthätigkeit wußte Tiedge nicht genug zu rühmen; gegen jüngere Talente sei er im Ganzen nachsichtig und duldsam gewesen, nur eines habe ihn in Zom versetzt, wenn jemand die religiösen oder moralischen Wahrheiten in Zweifel ziehn oder unsicher machen wollte. Tiedge bat einst um die Vergünstigung, ihm den Anfang seines didaktisch-religiösen Gedichtes Urania, dessen Plan er schon als Student in Halle gefaßt, vorlesen zu dürfen. Die erste Strophe lautete: Was ist Wahrheit? Weilt sie noch auf Erden? Oder kann die Lichtgeborne nur Jenseits dieses Sterns gefunden werden? Wo erscheint der Himmelstochter Spur? Hier wurde er schon von Gleim unterbrochen: Ja, da haben wir's - alles unsicher machen - alles mit Zweifeln benagen - warum soll Wahrheit nicht auf Erden gefunden werden? So ging es eine ganze Weile fort, ehe der erschrockne Dichter zu Worte kommen, und dem erzürnten Kritiker versichern konnte, er werde die beanstandete Strophe mit den vielen Fragezeichen zurückziehn und machte mich auf manches Werk aufmerksam, das ich alsbald aus des Grosvaters Bibliothek hervorsuchte, um es kennen zu lernen. Gern erzählte er von seinem früheren Aufenthalte in Halberstadt bei Gleim, dessen patriotische Grenadirlieder aus dem siebenjährigen Kriege uns schon in eine gewisse mythische Ferne gerückt waren. Die eben erschienenen „Geharnischten Sonette“ von Rückert übten begreiflicher Weise, als aus der nächsten Vergangenheit hervorgewachsen, einen weit größeren Reiz, und wurden neben Theodor Körners Leyer und Schwert eifrig gelesen. Gleims anerkannte Gutherzigkeit und Wohlthätigkeit wußte Tiedge nicht genug zu rühmen; gegen jüngere Talente sei er im Ganzen nachsichtig und duldsam gewesen, nur eines habe ihn in Zom versetzt, wenn jemand die religiösen oder moralischen Wahrheiten in Zweifel ziehn oder unsicher machen wollte. Tiedge bat einst um die Vergünstigung, ihm den Anfang seines didaktisch-religiösen Gedichtes Urania, dessen Plan er schon als Student in Halle gefaßt, vorlesen zu dürfen. Die erste Strophe lautete: Was ist Wahrheit? Weilt sie noch auf Erden? Oder kann die Lichtgeborne nur Jenseits dieses Sterns gefunden werden? Wo erscheint der Himmelstochter Spur? Hier wurde er schon von Gleim unterbrochen: Ja, da haben wir’s – alles unsicher machen – alles mit Zweifeln benagen – warum soll Wahrheit nicht auf Erden gefunden werden? So ging es eine ganze Weile fort, ehe der erschrockne Dichter zu Worte kommen, und dem erzürnten Kritiker versichern konnte, er werde die beanstandete Strophe mit den vielen Fragezeichen zurückziehn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0016" n="8"/> und machte mich auf manches Werk aufmerksam, das ich alsbald aus des Grosvaters Bibliothek hervorsuchte, um es kennen zu lernen. Gern erzählte er von seinem früheren Aufenthalte in Halberstadt bei Gleim, dessen patriotische Grenadirlieder aus dem siebenjährigen Kriege uns schon in eine gewisse mythische Ferne gerückt waren. Die eben erschienenen „Geharnischten Sonette“ von Rückert übten begreiflicher Weise, als aus der nächsten Vergangenheit hervorgewachsen, einen weit größeren Reiz, und wurden neben Theodor Körners Leyer und Schwert eifrig gelesen. Gleims anerkannte Gutherzigkeit und Wohlthätigkeit wußte Tiedge nicht genug zu rühmen; gegen jüngere Talente sei er im Ganzen nachsichtig und duldsam gewesen, nur eines habe ihn in Zom versetzt, wenn jemand die religiösen oder moralischen Wahrheiten in Zweifel ziehn oder unsicher machen wollte. Tiedge bat einst um die Vergünstigung, ihm den Anfang seines didaktisch-religiösen Gedichtes Urania, dessen Plan er schon als Student in Halle gefaßt, vorlesen zu dürfen. Die erste Strophe lautete: </p><lb/> <p>Was ist Wahrheit? Weilt sie noch auf Erden? </p><lb/> <p>Oder kann die Lichtgeborne nur </p><lb/> <p>Jenseits dieses Sterns gefunden werden? </p><lb/> <p>Wo erscheint der Himmelstochter Spur? </p><lb/> <p>Hier wurde er schon von Gleim unterbrochen: Ja, da haben wir’s – alles unsicher machen – alles mit Zweifeln benagen – warum soll Wahrheit nicht auf Erden gefunden werden? So ging es eine ganze Weile fort, ehe der erschrockne Dichter zu Worte kommen, und dem erzürnten Kritiker versichern konnte, er werde die beanstandete Strophe mit den vielen Fragezeichen zurückziehn </p> </div> </body> </text> </TEI> [8/0016]
und machte mich auf manches Werk aufmerksam, das ich alsbald aus des Grosvaters Bibliothek hervorsuchte, um es kennen zu lernen. Gern erzählte er von seinem früheren Aufenthalte in Halberstadt bei Gleim, dessen patriotische Grenadirlieder aus dem siebenjährigen Kriege uns schon in eine gewisse mythische Ferne gerückt waren. Die eben erschienenen „Geharnischten Sonette“ von Rückert übten begreiflicher Weise, als aus der nächsten Vergangenheit hervorgewachsen, einen weit größeren Reiz, und wurden neben Theodor Körners Leyer und Schwert eifrig gelesen. Gleims anerkannte Gutherzigkeit und Wohlthätigkeit wußte Tiedge nicht genug zu rühmen; gegen jüngere Talente sei er im Ganzen nachsichtig und duldsam gewesen, nur eines habe ihn in Zom versetzt, wenn jemand die religiösen oder moralischen Wahrheiten in Zweifel ziehn oder unsicher machen wollte. Tiedge bat einst um die Vergünstigung, ihm den Anfang seines didaktisch-religiösen Gedichtes Urania, dessen Plan er schon als Student in Halle gefaßt, vorlesen zu dürfen. Die erste Strophe lautete:
Was ist Wahrheit? Weilt sie noch auf Erden?
Oder kann die Lichtgeborne nur
Jenseits dieses Sterns gefunden werden?
Wo erscheint der Himmelstochter Spur?
Hier wurde er schon von Gleim unterbrochen: Ja, da haben wir’s – alles unsicher machen – alles mit Zweifeln benagen – warum soll Wahrheit nicht auf Erden gefunden werden? So ging es eine ganze Weile fort, ehe der erschrockne Dichter zu Worte kommen, und dem erzürnten Kritiker versichern konnte, er werde die beanstandete Strophe mit den vielen Fragezeichen zurückziehn
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Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/16>, abgerufen am 26.07.2024. |