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Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871].

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verderbliche, daß viele Hunderte davon krepirten, und ein beträchtlicher Theil der französischen Kavallerie unbrauchbar wurde.

Es ließ sich wohl voraussehn, daß Napoleon seine alte Taktik nicht verlassen, und geraden Wegs auf die feindliche Hauptstadt losgehn werde. Aber es gab in Rußland zwei Hauptstädte, das alte halbasiatische Moskau und das moderne Petersburg. Beide Städte waren vom Uebergangspunkte über den Niemen um Hunderte von Meilen entfernt, und durch fast unwirthbare Landstrecken getrennt. Im Anfange des Feldzuges scheint Napoleon selbst geschwankt zu haben, ob er sich links nach Petersburg oder rechts nach Moskau wenden solle. Vermuthlich hatte er gehofft, das russische Heer werde sich ihm an der Gränze entgegenwerfen, er werde es nach gewohnter Weise in ein paar Schlachten tüchtig abklopfen oder vernichten, und darauf in dem zu schließenden Frieden den Beitritt zu seinem Kontinentalsysteme erlangen. Ob dann der Sieger auch Rußland unter seine Vasallen aufnehmen, und an der Spitze aller europäischen Heere durch Persien gegen die englischen Besitzungen in Ostindien marschiren werde, das mochte ihm selbst wohl kaum klar sein, aber es fehlte nicht an Zeitungspolitikern, die ihm die Ausführung dieses Riesenplanes zutrauten.

Allein das russische Heer, das er an der Gränze zu schlagen hoffte, war nicht zu finden; nur einzelne Kosackenschwärme verschwanden eben so schnell als sie sich zeigten. Kam es ja einmal zu einem Scharmützel, so wurde dies in den französischen Bulletins mit grellen Farben ausgemalt. Die französische große Armee bewegte sich in einer flachen, baumlosen und menschenleeren Steppe tagelang vorwärts,

verderbliche, daß viele Hunderte davon krepirten, und ein beträchtlicher Theil der französischen Kavallerie unbrauchbar wurde.

Es ließ sich wohl voraussehn, daß Napoléon seine alte Taktik nicht verlassen, und geraden Wegs auf die feindliche Hauptstadt losgehn werde. Aber es gab in Rußland zwei Hauptstädte, das alte halbasiatische Moskau und das moderne Petersburg. Beide Städte waren vom Uebergangspunkte über den Niemen um Hunderte von Meilen entfernt, und durch fast unwirthbare Landstrecken getrennt. Im Anfange des Feldzuges scheint Napoléon selbst geschwankt zu haben, ob er sich links nach Petersburg oder rechts nach Moskau wenden solle. Vermuthlich hatte er gehofft, das russische Heer werde sich ihm an der Gränze entgegenwerfen, er werde es nach gewohnter Weise in ein paar Schlachten tüchtig abklopfen oder vernichten, und darauf in dem zu schließenden Frieden den Beitritt zu seinem Kontinentalsysteme erlangen. Ob dann der Sieger auch Rußland unter seine Vasallen aufnehmen, und an der Spitze aller europäischen Heere durch Persien gegen die englischen Besitzungen in Ostindien marschiren werde, das mochte ihm selbst wohl kaum klar sein, aber es fehlte nicht an Zeitungspolitikern, die ihm die Ausführung dieses Riesenplanes zutrauten.

Allein das russische Heer, das er an der Gränze zu schlagen hoffte, war nicht zu finden; nur einzelne Kosackenschwärme verschwanden eben so schnell als sie sich zeigten. Kam es ja einmal zu einem Scharmützel, so wurde dies in den französischen Bulletins mit grellen Farben ausgemalt. Die französische große Armee bewegte sich in einer flachen, baumlosen und menschenleeren Steppe tagelang vorwärts,

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[323/0335] verderbliche, daß viele Hunderte davon krepirten, und ein beträchtlicher Theil der französischen Kavallerie unbrauchbar wurde. Es ließ sich wohl voraussehn, daß Napoléon seine alte Taktik nicht verlassen, und geraden Wegs auf die feindliche Hauptstadt losgehn werde. Aber es gab in Rußland zwei Hauptstädte, das alte halbasiatische Moskau und das moderne Petersburg. Beide Städte waren vom Uebergangspunkte über den Niemen um Hunderte von Meilen entfernt, und durch fast unwirthbare Landstrecken getrennt. Im Anfange des Feldzuges scheint Napoléon selbst geschwankt zu haben, ob er sich links nach Petersburg oder rechts nach Moskau wenden solle. Vermuthlich hatte er gehofft, das russische Heer werde sich ihm an der Gränze entgegenwerfen, er werde es nach gewohnter Weise in ein paar Schlachten tüchtig abklopfen oder vernichten, und darauf in dem zu schließenden Frieden den Beitritt zu seinem Kontinentalsysteme erlangen. Ob dann der Sieger auch Rußland unter seine Vasallen aufnehmen, und an der Spitze aller europäischen Heere durch Persien gegen die englischen Besitzungen in Ostindien marschiren werde, das mochte ihm selbst wohl kaum klar sein, aber es fehlte nicht an Zeitungspolitikern, die ihm die Ausführung dieses Riesenplanes zutrauten. Allein das russische Heer, das er an der Gränze zu schlagen hoffte, war nicht zu finden; nur einzelne Kosackenschwärme verschwanden eben so schnell als sie sich zeigten. Kam es ja einmal zu einem Scharmützel, so wurde dies in den französischen Bulletins mit grellen Farben ausgemalt. Die französische große Armee bewegte sich in einer flachen, baumlosen und menschenleeren Steppe tagelang vorwärts,

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Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871], S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen01_1871/335>, abgerufen am 10.06.2024.