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Panizza, Oskar: Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit. Leipzig, 1895.

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der plözliche Einfall bei einem Luther, der, in Form einer religiösen Tese gekleidet, allen bis dahin bestandenen gemütischen Schwierigkeiten und Grübeleien ein Ende macht, ohne in der Richtung der bisher gehegten teologischen Zweifel zu liegen, ganz im Gegenteil von der entgegengesezten Richtung komt, wie eine Befreiung wirkt, und von der Stunde an aus einem ängstlichen, bekümmerten, elenden Menschen einen glaubensstarken, in sich gefesteten, mit unglaublicher Rüksichtslosigkeit vorgehenden Kämpfer und Anführer der Geister macht, dessen Einfluss Jahrhunderte überdauert? - Woher der fast wörtlich übereinstimmende Vorfall bei Descartes, der mitten im Kriegslager bei Neuburg an der Donau, an einem von ihm festgehaltenen Tag, am 10. Nov. 1619, von einem Gedanken überrascht wird, dessen Eintritt ihm selbst unbegreiflich ist, und der, an die Spize seiner Dedukzionen gesezt, zum Grund- und Ekstein der modernen filosofischen Spekulazion wird? - Woher das ganz ähnliche Ereignis bei Jacob Böhme, der bei einem rein äusserlichen, ihm in der Erinnerung gebliebenen, Anlass, wie er erzählt, beim Betrachten eines glänzenden Zinn-Geschirrs, zuerst, und mit einem Schlag, auf jene Ideen geführt wird, die sein ferneres, teosofisches Sistem beherschen, und aus ihm, einem Schuster, einen der wirkungsvollsten Denker und tiefsinnigen Grübler machen? - Woher der noch rapidere Vorfall bei Swedenborg, der plözlich während des Mittagessens in London von einem inneren Vorwurf überfallen wird, genau genommen von einer Halluzinazion, die ihn von dem Moment an zur inneren Umkehr nötigt, und aus einem lebenslustigen, weltmännischen Gelehrten einen Spiritisten und Geisterseher werden lässt? - Woher endlich die ganz übereinstimmenden Aussagen von Künstlern, hervorragenden Denkern, überhaupt von innerlich stark beschäftigten Menschen, die glükliche Einfälle haben, Inspirazionen, ohne welche sie sich nicht zur Arbeit entschliessen können, welch' leztere von ihnen allen in ganz naiver Weise als fremde, ausser ihnen selbst gelegene, Einflüsse gedeutet werden, und die aus ihnen allen, von Mahomed bis auf Calvin, von Luther bis auf Helmholtz ausgesprochene

der plözliche Einfall bei einem Luther, der, in Form einer religiösen Tese gekleidet, allen bis dahin bestandenen gemütischen Schwierigkeiten und Grübeleien ein Ende macht, ohne in der Richtung der bisher gehegten teologischen Zweifel zu liegen, ganz im Gegenteil von der entgegengesezten Richtung komt, wie eine Befreiung wirkt, und von der Stunde an aus einem ängstlichen, bekümmerten, elenden Menschen einen glaubensstarken, in sich gefesteten, mit unglaublicher Rüksichtslosigkeit vorgehenden Kämpfer und Anführer der Geister macht, dessen Einfluss Jahrhunderte überdauert? – Woher der fast wörtlich übereinstimmende Vorfall bei Descartes, der mitten im Kriegslager bei Neuburg an der Donau, an einem von ihm festgehaltenen Tag, am 10. Nov. 1619, von einem Gedanken überrascht wird, dessen Eintritt ihm selbst unbegreiflich ist, und der, an die Spize seiner Dedukzionen gesezt, zum Grund- und Ekstein der modernen filosofischen Spekulazion wird? – Woher das ganz ähnliche Ereignis bei Jacob Böhme, der bei einem rein äusserlichen, ihm in der Erinnerung gebliebenen, Anlass, wie er erzählt, beim Betrachten eines glänzenden Zinn-Geschirrs, zuerst, und mit einem Schlag, auf jene Ideen geführt wird, die sein ferneres, teosofisches Sistem beherschen, und aus ihm, einem Schuster, einen der wirkungsvollsten Denker und tiefsinnigen Grübler machen? – Woher der noch rapidere Vorfall bei Swedenborg, der plözlich während des Mittagessens in London von einem inneren Vorwurf überfallen wird, genau genommen von einer Halluzinazion, die ihn von dem Moment an zur inneren Umkehr nötigt, und aus einem lebenslustigen, weltmännischen Gelehrten einen Spiritisten und Geisterseher werden lässt? – Woher endlich die ganz übereinstimmenden Aussagen von Künstlern, hervorragenden Denkern, überhaupt von innerlich stark beschäftigten Menschen, die glükliche Einfälle haben, Inspirazionen, ohne welche sie sich nicht zur Arbeit entschliessen können, welch’ leztere von ihnen allen in ganz naiver Weise als fremde, ausser ihnen selbst gelegene, Einflüsse gedeutet werden, und die aus ihnen allen, von Mahomed bis auf Calvin, von Luther bis auf Helmholtz ausgesprochene

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[16/0017] der plözliche Einfall bei einem Luther, der, in Form einer religiösen Tese gekleidet, allen bis dahin bestandenen gemütischen Schwierigkeiten und Grübeleien ein Ende macht, ohne in der Richtung der bisher gehegten teologischen Zweifel zu liegen, ganz im Gegenteil von der entgegengesezten Richtung komt, wie eine Befreiung wirkt, und von der Stunde an aus einem ängstlichen, bekümmerten, elenden Menschen einen glaubensstarken, in sich gefesteten, mit unglaublicher Rüksichtslosigkeit vorgehenden Kämpfer und Anführer der Geister macht, dessen Einfluss Jahrhunderte überdauert? – Woher der fast wörtlich übereinstimmende Vorfall bei Descartes, der mitten im Kriegslager bei Neuburg an der Donau, an einem von ihm festgehaltenen Tag, am 10. Nov. 1619, von einem Gedanken überrascht wird, dessen Eintritt ihm selbst unbegreiflich ist, und der, an die Spize seiner Dedukzionen gesezt, zum Grund- und Ekstein der modernen filosofischen Spekulazion wird? – Woher das ganz ähnliche Ereignis bei Jacob Böhme, der bei einem rein äusserlichen, ihm in der Erinnerung gebliebenen, Anlass, wie er erzählt, beim Betrachten eines glänzenden Zinn-Geschirrs, zuerst, und mit einem Schlag, auf jene Ideen geführt wird, die sein ferneres, teosofisches Sistem beherschen, und aus ihm, einem Schuster, einen der wirkungsvollsten Denker und tiefsinnigen Grübler machen? – Woher der noch rapidere Vorfall bei Swedenborg, der plözlich während des Mittagessens in London von einem inneren Vorwurf überfallen wird, genau genommen von einer Halluzinazion, die ihn von dem Moment an zur inneren Umkehr nötigt, und aus einem lebenslustigen, weltmännischen Gelehrten einen Spiritisten und Geisterseher werden lässt? – Woher endlich die ganz übereinstimmenden Aussagen von Künstlern, hervorragenden Denkern, überhaupt von innerlich stark beschäftigten Menschen, die glükliche Einfälle haben, Inspirazionen, ohne welche sie sich nicht zur Arbeit entschliessen können, welch’ leztere von ihnen allen in ganz naiver Weise als fremde, ausser ihnen selbst gelegene, Einflüsse gedeutet werden, und die aus ihnen allen, von Mahomed bis auf Calvin, von Luther bis auf Helmholtz ausgesprochene

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Zitationshilfe: Panizza, Oskar: Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit. Leipzig, 1895, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/panizza_illusionismus_1895/17>, abgerufen am 28.04.2024.